Literatur, Gesellschaft

Betreff: Bäcker F.

Von: die Motzknolle | 5. April 2020, 09:46

Ich schreibe seit Jahren immer wieder fiktive Mails an den fiktiven Dr. N.. Themen ("Betreff"): Alles Mögliche, das mir aktuell durch den Kopf geht.
Hier ist es sind es die Themen Zeitgeist und Verhältnis Unterschicht/ Mittelschicht.

Betreff: Bäcker F.


Sehr geehrter Herr Dr. N.,

neulich wollte ich ein Mail an irgendeinen Verantwortlichen bei der Tiroler Gebietskrankenkasse schreiben. Ein Beschwerdemail, das mache ich in den letzten Monaten ja oft. Mich irgendwo wegen irgendetwas beschweren. Möglichst konstruktiv und sachlich, natürlich. Bei der TGKK wollte ich anregen, dass sie mehr „alternative“ Heilmethoden zahlen sollen… natürlich vergeblich, trotz Urgenz bekam ich keine Antwort.
Das aber nur nebenbei. Bei meiner Suche nach dem Namen irgendeines Verantwortlichen (ich entschied mich dann für den Obmann der TGKK) stolperte ich über einen ganz anderen Namen – Georg F.. Das weckte Erinnerungen an meine Schulzeit. Jetzt ist er einer der Dienstgebervertreter in der Generalversammlung der TGKK. Damals war er Chef einer großen Bäckereikette (und ist es heute noch). Die Bäckereikette F. hatte damals ein Projekt ausgeschrieben, und unsere Klasse nahm daran teil. Das Thema: Wie soll die Bäckerei der Zukunft aussehen? Ich war damals schon etwas altmodisch und schlug vor: „Back to the roots! Frisches Brot, das ist für mich, wenn jemand sehr früh aufsteht, sich in die Backstube stellt und bäckt. Dann wird das Brot ausgeliefert, und auch wenn ich erst spätnachmittags einkaufe, ich finde, frischer braucht Brot nicht zu sein. Außen knusprig und innen weich ist es dann immer noch. Tiefgekühlte Halbfertigware, die in der Filiale stündlich lieblos aufgebacken wird – das schmeckt mir nicht.“ Niemand stimmte mir zu, stattdessen setzten sich Vorschläge durch wie: „Kalorienreduziertes Brot!“ oder: „Kalorienangabe bei jedem Brot!“. Tja, das war zeitgemäßer.
Dann kam der Tag, an dem wir unser Projekt präsentieren sollten. Wir fuhren nach M., der Chef F. persönlich nahm sich Zeit. Er beeindruckte mich durch zwei Sätze: „Altes Brot ist nicht hart – kein Brot, das ist hart.“ Und: „Die Aufgabe meines Großvaters war es, Hungrige satt zu machen. Meine Aufgabe ist es, Satte hungrig zu machen.“ Wow. Absolut richtig.
Viele Jahre später hatte ich einen Liebhaber, der in M. lebte. Er sagte, sein Beruf sei Bäcker, ich war der Ansicht, er sei ein etwas höher qualifizierter Fließbandarbeiter, trotz Lehrabschluss – in der Großbäckerei F.. Er arbeitete dort seit seiner Jugend.
Ich räkelte mich auf seinem Bett, mein Blick fiel auf das Regal, blieb dort an einer Weinkaraffe hängen. Er folgte meinem Blick. „Die habe ich zum 25. Firmenjubiläum bekommen“, erklärte er. Na wow, dachte ich. Da haben sich die Personalfuzzis der Firma F. ja etwas Tolles ausgedacht. Wahrscheinlich kommt die Idee sogar von irgendeinem hochbezahlten externen Consultant. Was teilt ein Firmenchef, der seinen Arbeitern eine Weinkaraffe schenkt, diesen mit? Aus Weinkaraffen trinkt man nur guten Wein. Also erhebt der Chef seine Arbeiter mit diesem Geschenk zu Genießern, wenn nicht gar zu Weinkennern. Er sagt damit zu ihnen: „Ich weiß, ihr seid keine stumpfsinnigen Arbeitstiere, ihr habt Stil und Geschmack. Ihr sauft kein ordinäres Bier, ihr genießt edlen Rotwein.“ So fühlen sich die Arbeiter geehrt, zwei Gesellschaftsstufen nach oben gehoben. Raffiniert!
Laut gesagt habe ich das lieber nicht. Vielleicht hätte sich mein Liebhaber beleidigt gefühlt.

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