Literatur

"Musik in seinen Ohren"

Von: Regina Reiter | 26. März 2020, 07:28

Guten Morgen am Österreichischen Vorlesetag. Gemeinsam mit Helmut Tschellnig hätte ich heute Abend in Pressbaum gelesen, schade. Dafür gibt es hier eine Kostprobe in Form meines Beinahe-Krimis, viel Vergnügen!

MUSIK IN SEINEN OHREN

Pass auf, die gefällt dir bestimmt. Eine unaufdringliche Geschichte, die eine Saite in dir anstößt und einen vertrauten oder auch einen exotischen Ton hervorbringt. Dann kann ich nicht ausschließen, dass dir dabei das Lächeln in den Mundwinkeln gefriert, ein bisschen so wie dem älteren Herrn, der jetzt vor mir auf der Friedhofsbank sitzt und mit offenen Augen in den Himmel starrt, aber alles der Reihe nach.

Roger betrachtete die Tattoos seines Neuzugangs. Heutzutage war sowas völlig normal, aber man vergisst halt gern, dass mit den Lebensjahren auch die Motive nicht mehr so taufrisch aussehen. Das kann sich ein Junger womöglich nicht vorstellen, wie aus einem chinesischen Schriftzeichen eine Ziehharmonika wird, außer du bist Krankenpfleger. „Machen Sie das schon lange?“ „Nur vorübergehend. Eigentlich bin ich Influencer.“ „Influenza?“ Egal, in zehn Minuten war hier Schluss für heute. Roger dachte an Josefs Krankenakte, die großteils aus Zeitungsberichten bestand. Heimeinweisung nachdem er ein Privatschulenfrüchtchen aus grünem Elternhaus beim Freilassen seiner Zuchtkarnickel erwischt und ihm postwendend mit der Steinschleuder eine Rippe durchschossen hatte. „Herr Roger, ich bräuchte ein paar Stunden Tapetenwechsel, lässt sich das einrichten?“ Josef steckte ihm einen beachtlichen Geldschein in die Brusttasche. „Zwischen Abendessen und Schichtwechsel gehen Sie niemand ab, aber machen Sie keinen Blödsinn.“

Wenn der Wetterbericht nicht völlig danebenlag, war es einer der letzten lauen Abende. Und was sich da jetzt ereignete, könnte man glatt für eine Lösegeldübergabe halten, auch wenn Josefs bester Pyjama nicht ganz dem Dresscode entsprach. Leise fuhr der Zug aus der Station, er stand noch immer am Bahnsteig und gönnte sich ein paar Atemzüge lang den Klang der nahen Autobahn. Wenn es dein Stück Heimat ist, erfüllt es dich mit Stolz, da kann sich der Rest der Welt noch so abfällig über den Lärm äußern, vom Feinstaub rede ich erst gar nicht. Wenn dich das Brummen der Motoren tagtäglich begleitet, du früher an der Tankstelle sogar noch näher im Geschehen warst, dann ist es für dich Musik. Ruckartig verschwand er mit einem Packen Papier unterm Arm in den Schrebergärten und betrat wenig später den anderen Bahnsteig. Die Beleuchtung hier war eine Katastrophe, da könnte sich die Gemeinde auch einmal etwas einfallen lassen, aber offensichtlich hatte der Roger die besseren Augen als ich.

Josef und Herbert Krempel kannten sich schon, als dessen Frau noch lebte. Nach ihrem Tod vollste Unterstützung der Kleingartenmafia bei der Trauerarbeit, indem sie Krempel unermüdlich auf die höchstzulässige Grashalmlänge hinwiesen. „Die Leute reden über mich“, hatte ihm Krempel sein Leid geklagt. „Vielleicht sollten Sie mit den Leuten reden?“ Und das sagt einer, der sein Leben lang vorzugsweise mit seinen preisgekrönten Karnickeln sprach. Dass immer die, die es gar nicht wissen konnten, die Weisheit mit dem Löffel gefressen hatten, aber ich muss zugeben, für den Krempel perfekte Dosis. Der hat sich dann sogar eine Außenklappe in den Zaun geschnitzt, damit der Fallobstsammeltrupp die Corpora Delicti unverzüglich in seinen Komposter werfen konnten und entschärfte damit enorm die Situation mit den Hundebesitzern, weil nichts schlimmer, als wenn die beim Befüllen ihrer Gackerlsackerl versehentlich in einen faulen Apfel griffen. Mein lieber Schwan, daran siehst du schon, wie sehr der Krempel an dem Schrebergarten hing. Hier war Josefs Reserve für ein bisschen erkaufte Freizeit sicherer als im Heim, auf Krempels Schichtkomposter war Verlass.

‚Immer wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her‘ hing in blauen Kreuzstichen ober dem Aufenthaltsraum. Der Alte hatte also Geld. Roger war es leid Sonja zu erklären, dass man als Influencer erst einmal in Lifestyle investieren musste, um das weite Feld an Geldgebern auf sich aufmerksam zu machen. Und dann immer noch das Restrisiko an den Falschen zu geraten, da reicht es schon, wenn sich deine Frau für ein zweiminütiges Shooting lasziv auf einer fremden Motorhaube räkelt, wenn dich die Marke nicht haben will, sofort Klage. Da kannst du noch von Glück reden, wenn das Autokennzeichen nicht mit im Bild ist oder sich kein Passant durch das Mitanschauen Müssen gestört fühlt. Ausgesprochen sensible Materie. Dass sich der Josef aber jetzt bei der Sommerausklangsparty mit den Ehrenamtlichen so besaufen würde, hätte ich ihm nicht zugetraut. Drei Sturm und er plauderte die besten Steinpilzplätze des gesamten Wienerwaldes aus, totales No-Go. Und als Krönung noch die Geschichte mit dem Wolf, da merkte man schon, dass er überhaupt nichts vertrug. Wobei ich zugeben muss, dass ich unlängst tatsächlich im Amtsblatt über eine Wolfssichtung im Wienerwald gelesen habe, die Bevölkerung möge achtsam sein, weil so ein Wolf würde sich auch nicht ewig von Biosphärenparkschafen ernähren. Das beschäftigte jetzt auch den Roger.

So schnell hatte Josef nicht mit einem spendenpflichtigen Ausflugsangebot gerechnet, aber vermutlich war Roger auch auf seine Steinpilzplätze scharf und witterte das große Geschäft. „Hören Sie, ich bräuchte davor noch einmal ein paar Stunden für mich allein.“ Also wenn du mich fragst, interessante Aussage in einem Heim.

Jössas na, der Timo! Jeden Tag trieb es den schönen Timo über den Friedhof hin zu den Schrebergärten, um nachzuschauen, was es Neues gab. Es roch nach Herbst, da war absoluter Verlass auf seine Nase. Er war immer noch eine stattliche Erscheinung, lediglich seine Manieren etwas verwildert. Timo war ein Allesfresser. Nichts was ihm unter seine blauen Augen kam blieb verschont. Um dennoch ein Gourmet zu bleiben, galt es die Dinge grundsätzlich erst einmal nur anzuknabbern, doch diesmal verlor er beim ungeahnten Klang dieser geschmacksneutralen Kost komplett die Beherrschung und fraß rhythmisch hemmungslos Schein um Schein in sich hinein.

Tja, nirgends wurde so viel gestorben wie hier, statistisch gesehen. Auf der einen Seite des Tales lag die Autobahn mit einer anspruchsvollen Haarnadelkurvenauffahrt, sowas würde man heute auch nicht mehr bauen und hier herüben führten die Bahngleise, protzten die Schrebergärten und kaum einen Steinwurf darunter hatte es die aufstrebende Stadt schon zu einem beachtlichen Friedhof gebracht. Ein Ausblick war das!

Josef kannte diese Fraßspuren nur zu gut, da hätte er nicht auch noch die kleinen Kotbemmerl gebraucht, die jetzt wie Kleingeld zwischen den unversehrtesten Geldscheinen pickten. Mit weichen Knien setzte er sich auf die Friedhofsbank. Seine Musik würde ihn schon wieder beruhigen.

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