Literatur

Emma

Von: Birgit Krenn | 1. April 2020, 13:05

Kurztext

Sie trug rote Lackschuhe mit weißen Blumen. Als ob jemand mit dem Namen Emma nur ein Mädchen sein könnte, niemals aber eine Frau. Sie sah über ihre Schulter, als erwarte sie jemanden oder etwas, aber keine vertraute Gestalt löste sich aus der Menge, beschleunigte ihren Schritt. Jemand könnte die Hand auf ihre Schulter legen. Sie würde sich überrascht umdrehen. Ihr Ausdruck würde sich verändern, ihr Gesicht würde sich aufhellen beim Anblick des anderen.
Oder war es Emmas Hand, die sich auf eine Schulter legte. Der Mann drehte sich um und starrte Emma fragend an. »Ja, bitte?«
»Entschuldigen Sie, ich habe Sie verwechselt.« Emma geht rasch weiter, damit der Mann Emmas Lächeln nicht sehen kann. Unter ihren Fingern spürt sie noch den weichen Stoff seines Baumwollhemdes, die Festigkeit seiner Schulter. Die warme Ausdünstung seines Körpers, er roch leicht süßlich, irgendwie nach Beeren, liegt noch in der Luft, als sie weitergeht.
Jetzt wird sie etwas mutiger. Emma geht mit forschem Schritt. Sie beginnt sogar zu laufen. So als würde sie versuchen jemanden einzuholen. Ihre Großmutter? Möglich – ja, da vorne, die Frau mit der grünen Weste, sie hatte sie gleich erkannt. Großmutter schob ihre zarten Schultern leicht vor, als wollte sie sich den Weg durch die Menge freischieben – wie beim Sport.
Sie könnte ihr hinterherlaufen. Es würde sich ausgehen. Ihr Schritt wird fester. Die Frau ist noch ein gutes Stück von ihr entfernt. Jetzt muss sie sich doch noch richtig anstrengen, um sie einzuholen. Sie ist noch rüstig unterwegs. Emma läuft und lacht dabei. Ihre roten Lackschuhe klappern auf dem Asphalt. »Oma! Oma! So warte doch. Warte auf mich!« Die Frau bleibt endlich stehen. Ganz behutsam senkt sich Emmas Hand auf die Schulter der alten Frau. Die grüne Wollweste kratzt ein wenig. Ganz langsam dreht sich die Frau zu ihr um. Jede Bewegung verrät Verwunderung. »Oma«, sagt Emma zögernd. In dem glasigen Blau von Omas Augen blitzt jetzt erkennen auf. »Rosa, na Rosa. Dass ich dich wiedersehe!« Es fühlt sich warm und weich an als sie Emmas Hand ganz fest drückt.

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