Menschenbilder

18. November 2012, 14:05

Dzevad Karahasan lebt in Sarajewo und in Graz. Dorthin kam er nach seiner Flucht aus der belagerten Stadt. Im Gespräch wirkt er wie ein Bürger einer utopischen Republik Bosnien Herzegowina: verschiedene Kulturen bringen dort Bildung, Verständnis, Weitsicht, die Fähigkeit des Mitfühlens.

Die real existierende Republik demonstriert Anderes: chronisches Scheitern an kulturellen Gegensätzen. Dzevad Karahasan ist Kind einer muslimischen Familie, verheiratet mit einer Orthodoxen Christin und hat seit seiner Kindheit auch katholische Lehrer und Freunde. Er spricht viele Sprachen darunter Arabisch und Russisch, liebt Tschechow und Büchner, untersucht kulturelle Wurzeln und fürchtet, dass die Beziehung zwischen Westen und Orient durch Gleichgültigkeit geprägt ist.

Als während der Belagerung durch den Krieg obdachlos Gewordene seine Wohnung in Besitz nahmen, ging ein Herzstück verloren: viele der 30.000 Bücher wurden verkauft oder verheizt.

Karahasan setzt sich in seiner Literatur mit seiner Heimat auseinander, mit den Erfahrungen von Menschen, die in die Flucht geschlagen werden, und trifft dabei auf existenzielle menschliche Erfahrungen.

Eine Trauer über das, was - sehr untertrieben formuliert - alles nicht gelingt, ist ihm anzumerken. Aber: "Die Kunst schützt uns vor Gleichgültigkeit" ist seine Überzeugung, und dass der Mensch lebt, solange er nicht gleichgültig ist. Im Krieg in Bosnien wurden so viele Menschen durch primitive Zuschreibungen ihrer vielen Eigenschaften beraubt, zum Teil imaginierter Kollektive. Aber: ein Schriftsteller muss den einzelnen Menschen ansprechen, sagte Karahasan einmal, und: "Ich habe keine Leserschaft. Ich habe Gesprächspartner."

Service

Prosa:
"Der östliche Diwan", Wieser 1993
"Tagebuch der Aussiedlung", Wieser 1993
"Königslegenden", Galrev 1996
"Bürger Handke, Serbenvolk" in "Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit", Steidl 1996
"Schahrijars Ring", Rowohlt 1997
"Formen des Lebens" (zur Theaterarbeit gemeinsam mit Herbert Gantschacher), edition selene 1999
"Die Fragen an der Kalender" edition selene 1999
"Sara und Serafina", Rowohlt 2000
"Das Buch der Gärten", Insel 2002
"Poetik der Grenze" (gemeinsam mit Markus Jaroschka), Steirische Verlagsgesellschaft 2003
"Der nächtliche Rat", Insel 2006
"Berichte aus der dunklen Welt", Insel 2007
"Die Schatten der Städte", Insel 2010
Theatertexte:
"Al-Mukaffa", Wieser 1994
"Povuceni Andjeo / Der entrückte Engel", ARBOS 1995
"Das Konzert der Vögel" edition selene 1997
"Gastmahl" Lichtungen 2005

Sendereihe

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