Weh dem, der lügt - Teil 1

Wir lügen öfter als uns bewusst ist

Nach den Ergebnissen einer amerikanischen Studie lügen Menschen im Durchschnitt täglich an die 200 Mal, und das aus den unterschiedlichsten Gründen: aus Angst, aus Scham, aus Bequemlichkeit - wobei diese Aufzählung längst nicht vollständig ist.

Schon der Philosoph und Kirchenvater Augustinus hat Lüge und Täuschung als eine Möglichkeit und Chance in der Beziehungsgestaltung gesehen, die - sofern sie anderen nicht schaden - auch zu Selbsteinsicht führen können. Und Ludwig Wittgenstein meinte: "Lügen ist ein Sprachspiel, man muss es lernen wie jedes andere."

Die Lüge - Versuch einer Definition

Lüge ist eine bewusst falsche, auf Täuschung ausgelegte Aussage oder - wie Peter Stiegnitz in seinem in der Edition Va Bene erschienen Buch "Die Lüge - das Salz des Lebens" schreibt - die bewusste oder unbewusste Abwendung von der Wirklichkeit. Verwerflich wird Lügen und Täuschen dort, wo man sich selbst oder anderen Schaden damit zufügt.

Lügen seien die Krücken, die man braucht wenn man ein gebrochenes Bein hat, sagt Peter Stiegnitz. Solange das Bein nicht verheilt sei, benötige man die Krücken, um sich überhaupt bewegen zu können. Ist das Bein wieder heil und ich verwende immer noch die Krücken, dann verlerne ich das Gehen. Lüge dürfe eben nicht zum Selbstzweck entarten - es sei lediglich ein Hilfsmittel.

Der Lüge ist Raum zu geben

Die kleine "weiße" Lüge helfe uns, so die Entwicklungspsychologin Ursula Kastner-Koller, besser mit einander auszukommen. Gar nicht lügen zu können, sei Ausdruck von wenig ausgeprägten sozialen Fähigkeiten. So können etwa Autisten, die eben große soziale Defizite aufweisen, nicht lügen. Autistische Menschen können deshalb nicht lügen, weil sie keine so genannte "theory of mind", keine Theorie des Denkens entwickelt haben.

Mit der im 4. bis 5. Lebensjahr ablaufenden Entwicklung einer "theory of mind" beginnen Kinder zu merken, dass andere nicht alles wissen können, was sie selber wissen, und die Kinder lernen, dass sie andere Menschen täuschen und manipulieren können.

Lügen als Teil von sozialer Kompetenz bedeute, aus Rücksicht auf den anderen nicht immer alles auszusprechen, was man denke; dem anderen nur zuzumuten, was er vertragen könne, sagt Ursula Kastner-Koller.

Der notorische Lügner

Notorische Lügner seien sehr oft Menschen, die sehr schwer aushalten können, mit unangenehmen Reaktionen oder unangenehmen Situationen konfrontiert zu werden, und die gelernt hätten, so die Entwicklungspsychologin Kastner-Koller, sich immer so zu verhalten, dass sie möglichst wenig Widerspruch, möglichst wenig negative emotionale Rückmeldung bekommen. Notorische Lügner können aber auch Menschen sein, die das Lügen im sadistischen Sinne einsetzen, um Andere zu manipulieren.

Mit Intelligenz Schwäche kompensieren

In "Kampfsituationen" (Konkurrenzkampf) ist Lüge - so der Konfliktforscher Gerhard Schwarz - eines der Instrumente, um aus der Unterlegenheit eine Überlegenheit zu machen. So heißt es auch schon bei Friedrich Nietzsche in seinem 1873 veröffentlichten Essay "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne":

Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung; denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubtier-Gebiß zu führen versagt ist. Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskiertsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.

Mehr zum Thema Lüge in oe1.ORF.at
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Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 23. April bis Donnerstag, 26. April 2007, 9:05 Uhr

Buch-Tipps
Peter Stiegnitz, "Die Lüge - das Salz des Lebens", Edition Va Bene, ISBN 9783851670622

Friedrich Nietzsche, Andreas Dietrich, "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne", Riolomedia, ISBN 9783939850021