Ein Blick des Gehirns auf unser Ich
Der Rahmen
"Wir brauchen immer ein Bezugssystem, innerhalb dessen wir etwas beurteilen", meint Ernst Pöppel. In seinem neuen Buch zeigt er, dass die Menschen ohne diesen Rahmen, also ohne Vorurteile, Einstellungen, Hypothesen, Paradigmen gar nicht auskommen.
8. April 2017, 21:58
"Der Rahmen. Ein Blick unseres Gehirns auf unser Ich" heißt Ernst Pöppels großes Buch, das nicht nur Resultate der Hirnforschung resümiert. Der Autor unternimmt Streifzüge in Natur- und Geisteswissenschaften, er schreibt über Ethik und Ästhetik, über Sprache und Denken, über Kunst und Kreativität, Evolution und Wahrnehmung.
Überall gibt es Strukturen, Konstanten, ordnende Prinzipien. "Alles, was geschieht, alles, was in uns geschieht, ist immer schon in einen Rahmen gestellt", sagt Pöppel.
Ordnung und Unordnung
Eine wahre Wunderkammer, ganz wie das menschliche Gehirn, ist Ernst Pöppels 550 Seiten dickes Buch: komplex, faszinierend und kaum bis ins Letzte auszuloten. In 34 Abschnitten, die der Autor nicht "Kapitel" genannt wissen will und die, wie er erlaubt, "nicht in einer Richtung gelesen werden" müssen, wird über Ordnung und Unordnung räsoniert, über Zufall und Glück, über Fehlerquellen und Placebo-Effekte, über Zeitfenster und Arbeitsräume, aber auch über das Denken im Gehen oder den "Garten als Rahmen der Ruhe" (und ergo auch des Denkens).
Der Autor interessiert sich für das philosophische Leib-Seele-Problem genauso wie für die Wirkung von Gingko-Extrakten oder die Reaktionszeit von Squash-Spielern. Und da er viel weiß und sein Wissen anschaulich darzustellen versteht, da es ihm gelingt, Kompliziertes einfach auszudrücken und keinen akademisch spröden Ton anzuschlagen, folgt man ihm nur allzu gerne bei seinem Versuch der Kartografie des menschlichen Geistes.
Ich bin mein Doppelgänger
Natürlich geht es in diesem Buch nicht nur um wissenschaftliche Forschung (und ihre "Rahmen") im Allgemeinen, es geht auch um Hirnforschung im Besonderen. Pöppel befasst sich mit der Automatik von Hirnprozessen und der Ökonomie menschlichen Wahrnehmens und Denkens, mit der identitätsstiftenden Macht der Bilder und den neuronalen Grundlagen des Erlebens, er schreibt aber auch über Krankheiten als neuronale Störungen, über Multiple Sklerose, Alzheimer und Parkinson zum Beispiel.
"Da ist das zentrale Thema dieses episodische Gedächtnis, das ich mit vielen Studenten in Innsbruck untersucht habe", so Pöppel. "Da stellt man eine Sache fest: dass ich selber in meinen Erinnerungen bildhaft auftrete, das heißt ich werde mein eigener Doppelgänger. Das ist neurophysiologisch eine hochbrisante Frage: Wie ist das überhaupt möglich? Und da beschreibe ich, dass sich das Gehirn so eine Arbeitsplattform, eine zeitliche Bühne von zwei bis drei Sekunden erfunden hat, die vor aller inhaltlichen Bestimmung einfach da ist. Man stellt fest, dieser Bewusstseinsinhalt ist beschränkt auf diese Zeit, und das ist dann 'das Identische'."
Viel Privates
Ernst Pöppels Buch ist ein wissenschaftliches - und zugleich ein sehr persönliches Buch: eine fragmentarische Autobiografie (der Autor selbst spricht von "Selbstexperiment"), eingebettet in Forschungsergebnisse und Methodenreflexionen. Pöppel schreibt über seine Herkunft, seine Familie, seine Sportbegeisterung, er erwähnt Etappen seiner Laufbahn, Lehrer, Freunde und Kollegen: Ivo Kohler, Konrad Lorenz, Edwin Land.
Ernst Pöppels Buch geizt nicht mit Lebens- und Leseerfahrungen: wissenschaftliche Erkenntnisse neben Erinnerungen, Bekenntnissen und, immer wieder, Zitaten. Aber auch Bildbeschreibungen fließen mit ein und Musikerlebnisse. Pöppels "Rahmen" fasst ziemlich viel.
Nichts geht ohne Rahmen
"Das ist ein wissenschaftliches Buch für jeden", meint Pöppel. "Wir haben die Aufgabe, zu kommunizieren, was wir machen. Das heißt, es geht darum deutlich zu machen, dass das, was wir Wissenschaftler tun, nicht eingeschlossen ist in Labors, sondern da ist dieses Spielerische, auch das Humorvolle, die Freude an der Forschung."
Der Rahmen der Gefühle und der Rahmen der Wahrnehmung, der Rahmen der Biografie und der Rahmen der Geschichte, Wahrheit als Rahmen und Vertrauen: Unser Leben kennt viele Bezugssysteme, Rahmen, die keine Restriktionen darstellen, sondern Bedingung von Erkenntnis und Entwicklung. Dies deutlich gemacht zu haben ist das Verdienst von Ernst Pöppels wild mäanderndem Buch.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Ernst Pöppel, "Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns auf unser Ich", Hanser Verlag, 2006, ISBN 978-3446207790