Ungeahnte künstlerische Horizonte
Beethovens intimes Tagebuch
Ludwig van Beethovens "Sturm"-Sonate ist eine Art intimes Tagebuch aus der mittleren Schaffensperiode des Komponisten. Die Rätselhaftigkeit des Op. 31/2 ist in der Vieldeutigkeit seiner Anlage nicht aufzudecken. Vielleicht ist das auch besser so.
8. April 2017, 21:58
Byron Janis, Svjatoslav Richter und Clara Haskil
Schon lange nennen Musikkritiker Bachs Wohltemperiertes Klavier das Alte Testament und die 32 Sonaten von Beethoven das Neue der Klaviermusik. Ein bisschen sehr pauschal und banal, aber ein Kern Wahrheit steckt drin. Jedes einzelne Werk beider - sagen wir Testament statt Denkmäler - kann ohne weiteres aus dem Zusammenhang heraus für sich betrachtet werden.
In der Zielsetzung aber sind sie vollkommen gegensätzlich angelegt. Bach hat eine pädagogische Aufgabe zu erfüllen, er will ganz systematisch die 24 Tonarten erschöpfend im temperierten System ausloten, Beethoven versteht seine Sonaten als einen Erkenntnisprozess in vier Stufen, eine Entwicklung von der Gebrauchsmusik à la Haydn und Mozart hin zu einer stark introvertierten Musik, die Ausdruck seiner selbst, seiner persönlichen Tragik ist - eine Art intimes Tagebuch aus der mittleren Schaffensperiode.
Auftrag aus der Schweiz
Die Sonate mit der Nummer 17, unsere Sturm-Sonate von heute, stammt gemeinsam mit Nummer 16 aus der Zeit zwischen Oktober 1801 und Mai 1802, gleichzeitig entsteht die Zweite Sinfonie. Auftraggeber ist der Schweizer Verleger Nägli, alle drei Sonaten erscheinen als Opus 31 im Jahr 1805.
Die neuartigste ist fraglos die Nr. 2, das ist auch diejenige, die Beethoven als erste skizziert hat, und zwar deshalb so neuartig, weil sie mit ihren ausgreifenden Formen und starken, abrupten Schwankungen in Stimmungen und Gefühlsgehalt ganz ungeahnte künstlerische Horizonte erschließt.
Byron Janis
1950 entstand eine Aufnahme mit dem amerikanischen Pianisten Byron Janis. 23 Jahre später musste Byron Janis auf dem Höhepunkt seiner Karriere seine internationale Konzerttätigkeit drastisch reduzieren, eine arthritische Erkrankung der Hände zwang ihn dazu. Sein Spiel ist festgehalten auf der Philips-Serie "Great Pianists of the 20th century“.
Auffallend, dass die sogenannte "Sturm"-Sonate die einzige d-moll-Klaviersonate Beethovens ist. Ein Hauptkonzept ist das Eröffnungsthema, es beinhaltet zwei entgegengesetzte Tempi: largo und allegro und zwei entgegengesetzte Charakteristika. Auf der einen Seite entfalten sich schwebende, von unten nach oben zerlegte Akkorde, rezitativische Arpeggi, die andere Seite: ein stürmisches, hochexplosives allegro mit einem Zwei-Ton-Seufzermotiv.
Svjatoslav Richter
Gleich von Anfang an kehrt Beethoven sein Innerstes nach außen, suggeriert dieser Gegensatz zwischen largo und allegro die Vorstellung vom inneren Kampf eines Menschen, der leidet und hin und hergerissen ist.
Svjatoslav Richter war bei seiner Aufnahme von 1977 sehr bedacht darauf, largo und allegro zu trennen, größtmöglichen Kontrast zwischen freiem, fast trancehaftem Arpeggio und drängendem Seufzermotiv zu gestalten.
Clara Haskil
Wie inszeniert diesen Beginn Clara Haskil? Haskil spielt 1960, ihrem Todesjahr, virtuos und sensibel zugleich. Hochkonzentriert macht sie uns weder mit heftigem Pathos noch mit bloßem Kalkül den Keim dieser Sonate, die beiden Elemente des Kopfsatzes gegenwärtig. Sprache auf Tasten.
Gibt es eine richtige Interpretation?
Der Musikwissenschafter Maynard Solomon weist darauf hin, dass sich das stürmische des ersten Satzes der Klaviersonate der innere Kampf durch die tonartliche Labilität ausdrücke. Beethoven beginnt ja nicht mit der Grundtonart d-moll, sondern mit der fünften Stufe, der Dominante A-Dur.
Die Wirkung ist vielschichtig, das schafft eine Unsicherheit in Bezug auf die Tonart, die weitere Instabilität ergibt sich auch dadurch, dass der zerlegte Akkord nicht in der Grundgestalt erscheint, sondern in der ersten Umkehrung, also dem Sextakkord. Und dann sind wir noch einmal verwirrt, weil wir nicht wissen: Ist das jetzt schon das Thema oder erst die Einleitung oder beides zur gleichen Zeit? Richtige Interpretationen gibt es nicht, es gilt - die Vieldeutigkeit wird zur Rätselhaftigkeit -, dass der Satz auf mehr als nur eine Weise betrachtet werden kann.
Hör-Tipp
Ausgewählt, Mittwoch, 11. April 2007, 10:05 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
CD-Tipps
Die großen Pianisten des 20. Jahrhunderts - Byron Janis, Philips, ASIN B00000I0LE
Svjatoslav Richter - Ein Porträt, EMI, CMS 7644292
Die großen Pianisten des 20. Jahrhunderts - Clara Haskil II, Philips, ASIN B00000I94C
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