Montaignes Journal der rastlosen Neugier

Mein Geist rührt sich

Goethe meinte, dass ihm die Reisebeschreibungen des Michel de Montaigne "noch mehr Vergnügen als selbst seine Essais" bereitet hätten. Hans Stilett hat eine viel beachtete deutsche Neuinterpretation von Montaignes "Italienischer Reise" vorgelegt.

Ein Philosoph, der, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, nie die Bodenhaftung verloren hat, ist Michel de Montaigne: Ein Mann, der, bis heute unwiderlegt, schon im 16. Jahrhundert zur Erkenntnis kam: "Und selbst auf dem höchsten Thron der Welt sitzen wir nur auf unserem Arsch".

"Degoutante" Details

Michel de Montaigne, französischer Philosoph und Skeptiker, hat 1580 eine Italienreise unternommen, über die er präzise Tagebuch führte. So präzise, dass Zeitgenossen dieses "Journal de Voyage" ob der "unnützen und degoutanten" Details angewidert beiseite legten.

Montaignes Reise ist keine Bildungsreise, sondern ein Journal der rastlosen Neugier, die im Unterwegssein selbst ihren Sinn findet. Und zugleich sind diese Tagebucheintragungen das Protokoll eines Kranken: Montaigne litt seit 1577 an Nierensteinen und den damit verbundenen Koliken, auf seiner Italienreise hoffte er in den berühmtesten Kurbädern der Spätrenaissance (z. B. in Lucca) sein Leiden los zu werden. Vergeblich, dafür war der Philosoph, der den Anweisungen der Bader stets misstraute, auch zu eigensinnig.

Erkenntnis seiner selbst

Montaigne beschrieb seine körperlichen Zustände, seine Fürze, die sich seiner Meinung nach "im Hoden verfingen" und vor allem seine abgehenden Nierensteine mit derartiger Detailverliebtheit, dass heutige Ärzte ohne Problem eine retrograde Diagnose erstellen können. Mal sieht der unter großen Schmerzen aus den Nieren abgehende Stein wie ein "Tannenzapfen" aus, mal wie eine "Eichel". "Um die ganze Wahrheit zu sagen, er hatte haargenau die Form eines Schwanzes".

Montaigne, der, wenn nötig, auch deftig sein konnte, war ein Philosoph, dem Systematik und Dogmatismus verhasst war und dem es letztlich nur auf eines ankam: auf die Erkenntnis seiner selbst, denn, so die berühmte Maxime des Skeptikers: "Wie soll man etwas erkennen können, wenn man sich nicht einmal selbst begreift". Dass seine ungebremste Neugier auch vor "unnützen und degoutanten Details" nicht Halt machte, gehört zum Programm dieses geradezu modern anmutenden Denkers aus der Renaissance. Es gibt nichts, was der Beobachtung nicht wert wäre.

Begründer der Essays

Montaignes Tagebuch seiner Reise nach Italien (über die Schweiz und Deutschland) hat nicht die durchtrainierte Qualität jenes Werkes, das man später als das "persönlichste Buch der Weltliteratur" rühmen wird und das einer literarischen Gattung seinen Namen gab: die "Essais". Doch das "Journal de Voyage" ist ein aufschlussreicher Krankenbericht aus den Zeiten, als die Medizin gegen Nierensteine noch keine brauchbare Therapie hatte. Und vor allem ist das Tagebuch auch ein wertvolles Dokument der Alltagsgeschichte aus der Renaissance, verfasst von einem Denker, dem keine Beobachtung zu minder oder gering ist, um nicht festgehalten zu werden.

Er besucht ein Nonnenkloster und wundert sich über die hochhackigen Schuhe der Schwestern; er besucht Augsburg und wundert sich über den Reinlichkeitsfimmel der Deutschen; er spricht in Sterzing in einer Kirche ein hübsches Mädchen auf lateinisch an - und wundert sich, dass die kein Wort versteht. In Oberitalien veranstaltet er Feste für das Volk. Er wohnt einer Teufelsaustreibung bei, beobachtet Flagellanten-Umzüge und begutachtet in Rom die ausgestellten Häupter von Petrus und Paulus. Und prüft mit kritischem Blick das Gesicht Christi auf dem Schweißtuch der Veronika. Und nie hat man das Gefühl, es berichtet da einer, der vor mehr als 400 Jahren gelebt hat.

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Michel de Montaigne, "Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581", aus dem Französischen übertragen von Hans Stilett, Eichborn Verlag, ISBN 978-3821807253

Michel de Montaigne, "Essais", aus dem Französischen übertragen von Hans Stilett, Goldmann Verlag, ISBN 9783442453696, 2002

Michel de Montaigne, "Von der Kunst, das Leben zu lieben", aus dem Französischen übertragen von Hans Stilett, Eichborn Verlag, 2005, ISBN 9783821857664