Fast ein Kriminalroman
Der Steingänger
Wichtiger als Story und Plot ist Davide Longo die Erzählweise seines Romans. Sie ist bedächtig, spröde und lapidar, wirkt nüchtern und distanziert. Die Sprache wird zum Spiegel der kargen Landschaft des Piemont abseits vom Tourismus.
8. April 2017, 21:58
Das Piemont ist eine Region in Oberitalien zwischen Alpen und ligurischem Meer, mit der man teure Weine, mittelalterliche Kastelle und schöne Wanderwege assoziiert. Das Piemont ist aber auch jene Gegend an der französischen Grenze, die karg, rau und unwirtlich wirkt, wo das Gelände schroff und Tourismus ein Fremdwort ist. Hier, im armen, im westlich-gebirgigen Teil des Piemont, siedelt Davide Longo seinen Roman "Der Steingänger" an.
In den Bergen
Longos "Held" heißt Cesare. Cesare ist "der Franzose". Ende der 1930er Jahre, als er noch ein Bub war, floh er mit seiner Familie das arme Tal, um in Marseille sein Glück zu versuchen. Später kam er in seine Heimat zurück. Seit Jahren ein Witwer, lebt Cesare allein in einem Haus in den Bergen und fristet sein Dasein mit Holzschnitzereien.
Es ist ein Septemberabend, und Cesare, der gerade sein Abendessen beendet hat, trägt das Geschirr zur Spüle. Doch aus dem Hahn kommt kein Wasser. Er stapft in Richtung Trinkwasserspeicher. In einem Wasserbecken entdeckt er eine männliche Leiche, Cesare kennt den Toten: Es ist Fausto, sein Patensohn, der ganz offensichtlich keines natürlichen Todes gestorben ist. Die Suche nach dem Motiv für den Mord, eine langsame, stille, aber beharrliche Suche, die ihm nochmals den eigenen Lebensweg vor Augen führt, wird die letzte große Herausforderung Cesares.
Spiegel einer Landschaft
Nur ganz allmählich, ohne viel Worte zu machen, ohne sich in Erklärungen zu verlieren oder mit Anekdoten und Details aufzuhalten, expliziert der Erzähler die Geschichte von Fausto und Cesare. Cesare ist ein Außenseiter und Einzelgänger, der sich früher als Schleuser verdingte und Gruppen von "Illegalen" über die Berge nach Frankreich führte. Fausto hat von ihm das Gewerbe geerbt.
Wichtiger als Story und Plot ist Davide Longo die Erzählweise des Romans. Sie ist bedächtig, spröde und lapidar, wirkt nüchtern und distanziert, bevorzugt knappe, kurze Sätze und verzichtet auf alles Ausschmückende. Die Sprache wird zum Spiegel einer Landschaft und Mentalität, der alles Freundlich-Gefällige fremd ist.
Hang zu Metaphorik
Immer wieder weist der Erzähler auf die Farbe des Lichts hin, auf den Schneefall im September, auf die Atmosphäre der Kälte und Abgeschiedenheit, immer wieder beschreibt er mit knappen Worten eine Geste oder einen Blick, die mehr als die Worte die Figuren charakterisieren. Aber nicht jeder Vergleich wirkt stimmig. Kann ein Kachelofen "Grazie" haben? Wie muss man sich einen Liebesakt vorstellen, der so "zögerlich" und "unentschlossen" ist "wie das Wetter zwischen zwei Jahreszeiten"? Ist es wirklich originell, die Schönheit einer Frau zu vergleichen mit einer "eisigen Blume im Winter"?
Dass Longos Hang zu Metaphorik riskant ist, belegt auch jene Stelle, die dem Buch den Titel gab. "Il mangiatore di pietre", der Steineesser, lautet er, nicht "Der Steingänger", wie uns die deutsche Übersetzung weismachen will. Steineesser, das sind Cesare und Fausto, Menschen mit Stolz und Rückgrat, die nicht alles mit sich machen lassen, die nicht alles schlucken und verdauen. Aber ist es tatsächlich eine gelungene Beschreibung, wenn Longo in diesem Zusammenhang von Menschen spricht, bei denen, anders als bei den Mutlos-Verzweifelten, "die Steine im Mund nicht einfach schmelzen"?
Poetik der Andeutungen
Davide Longo, der 36-jährige Schriftsteller aus dem Piemont, hat in Italien bereits mehrere Literaturpreise erhalten und wird als neues Erzähltalent gefeiert. Tatsächlich ist ihm mit dem "Steingänger" eine spannende und erstaunlich abgeklärt erzählte Geschichte gelungen, die man als konsequente Umsetzung einer Poetik der Andeutungen, des Nicht-Aussprechens bezeichnen könnte: harte Schnitte, grobe Kontraste, sparsame Schilderungen.
Doch diese elliptische Erzählweise, wie Longo sie nennt, die jeden Satz gleichermaßen ausstellt, birgt auch die Gefahr, zur Manier zu werden, ins Raunend-Bedeutungsschwangere zu kippen, in ein Pathos der Verhaltenheit, den Kitsch des Ruralen. Longo hat die Gefahr weitgehend gemeistert. Zu diesem novellenartigen Stoff im Neorealismus-Look passt sein rauer, schnörkelloser Stil. Auch wenn man sich fragt, wie es die Leute dort schaffen, Steine zum Schmelzen zu bringen.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 6. April 2007, 16:30 Uhr
Ex libris, Sonntag, 8. April 2007, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Davide Longo, "Der Steingänger", aus dem Italienischen übersetzt von Suse Vetterlein, Wagenbach Verlag, ISBN 978-3803132086