Sozialgeschichte im besten Wortsinn
Wörter machen Leute
Peter Burke gilt als einer der bedeutendsten Kulturhistoriker der Gegenwart. Was ihn auszeichnet, ist die Sorgfalt, mit der er den Lesern die kulturgeschichtlichen Bezüge zu seinen Themen näherbringen möchte - auch in seinem neusten Werk.
8. April 2017, 21:58
Mit einem unendlich scheinenden Schatz an Wissen und Histörchen gibt Peter Burke einen Überblick über die Entwicklung verschiedener europäischen Sprachen - eingebettet in die Zeit der Hochblüte und des Rückgangs des Lateinischen, die Verbreitung des Buchdrucks und seine Folgen, die ersten großangelegten sprachpolitischen Tendenzen und das Aufkommen der Volkssprachen. In Spanien etwa war das Kastilische, in Italien das Toskanische zur Standardsprache erhoben worden.
Der Erfolg, den einige europäische Volkssprachen in der frühen Neuzeit zu verzeichnen hatten, verdankte sich sowohl dem Aufstieg zentralisierender Staaten - und den neuen, aus der Reformation hervorgegangenen Staatskirchen - als auch den Kampagnen von Gelehrten und Dichtern.
Der Aufbau des vorliegenden Buches folgt seinen eigenen Regeln: Auch wenn der Kulturhistoriker gern zwischen den Epochen und Jahrhunderten wechselt, Querbezüge, Rückschritte, sprachliche Tendenzen lassen sich nicht immer chronologisch einordnen. Genauso wenig folgt Peter Burke Jahreszahlen oder den Spuren historisch aufeinander folgender Ereignisse.
Europa in der frühen Neuzeit
Das Anfangskapitel ist dem Europa der frühen Neuzeit gewidmet. Im Zeitraum des 14. und 15. Jahrhunderts, so Burke, setzte sich bei immer mehr Menschen die Erkenntnis sprachlicher Vielfalt durch. Er beschreibt am Anfang der knapp 300 Seiten den Weg verschiedener europäischer Sprachen und ihrer Sprecher - und ihren Mühen, sich gegen das vorherrschende Lateinische durchzusetzen. Burke versetzt der sonst manchmal trockenen Sprachgeschichte Farbtupfer, wenn er in die Anekdotenkiste greift.
Auch Reisende bedienten sich des Lateinischen häufig als Lingua franca, im westlichen Teil Europas übrigens ebenso sehr wie im östlichen. So gebrauchten Engländer der elisabethanischen Zeit die Sprache bisweilen in ihrem Umgang mit den Iren, und ein Spanier, der nach dem Untergang der Armada in Irland angeschwemmt wurde, verdankte sein Leben vermutlich der Tatsache, dass er imstande war, sich mit den dortigen Einwohnern auf Lateinisch zu verständigen.
Volkssprachen gewinnen an Bedeutung
Ab dem 15. Jahrhundert gewannen mit den zahlreicher werdenden Lesern und Schreibern die einzelnen Volkssprachen an Bedeutung. Manche, wie das Irische oder Slowenische, hatten früh ihre eigenen Literatursprachen. Ihrer politischen Geschichte wegen konnten sie einen Platz in den vorderen Rängen der Weltsprachen allerdings nicht dauerhaft einnehmen. Zwischen den "Gewinnern" entstand ein Wettstreit: Die bisher ungeregelten Sprachen sollten rasch standardisiert und normiert werden, um die Kommunikation zwischen den verschiedenen Regionen zu verbessern.
Außerdem sollte dem Italienischen oder Spanischen, Deutschen oder Englischen etwas von dem Prestige oder der Würde verliehen werden, die man mit dem Lateinischen assoziierte.
Historische Daten und Anekdoten
Von der deutschen sprachpuritanischen "Frucht bringenden Gesellschaft" über ähnlich sprachlich xenophobe Tendenzen im Osmanischen Reich bis zu gegenteiligen antipuristischen Vereinigungen: Peter Burke zeigt die Ursprünge der gegenwärtigen Sprachfragen und beendet seine Beobachtungen mit dem Revolutionsjahr 1789 - nicht ohne am Ende des Buches auf das Heute hinzuweisen.
Ausgesprochen modern ist der Versuch, Sprachfragen auf dem Gesetzeswege zu entscheiden, also die unmittelbare Intervention des Staates in einer Domäne, die früher einmal - wenn überhaupt - durch Akademien für Wissenschaft und Dichtung geregelt wurde.
Anekdoten, historische Daten, Ereignisse, linguistische und sozialhistorische Grundzüge werden den Leserinnen und Lesern in Burkes Buch so präsentiert, dass sie verständlich und launig, aber niemals mit bildungsbürgerlich erhobenem Zeigefinger daherkommen.
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Buch-Tipp
Peter Burke, "Wörter machen Leute. Gesellschaft und Sprachen im Europa der frühen Neuzeit", aus dem Englischen übersetzt von Matthias Wolf, Verlag Wagenbach, 2006, ISBN 978-3803136213