Auf- und Aussteigerroman

Ehrensachen

"Ehrensachen" ist ein subtiler, präziser, vor allem das Milieu der besseren Kreise im Amerika der 1950er Jahre trefflich einfangender Roman und handelt von den - nicht immer dramatischen - Spannungen zwischen Herkunft und Zukunft.

Ein schlanker, rothaariger junger Mann lehnt sich aus dem Fenster und winkt jemandem zu. Es ist ein junges Mädchen, eine lachende Schöne mit rot geschminktem Mund, die draußen auf dem Rasen steht, mit Tweedkostüm und Tirolerhütchen. Sie wirft dem Jungen am Fenster Kusshände zu. "Ich bin verliebt", ruft dieser. Und: "Warum muss mir das heute passieren", klagt er, "ich bin doch gar nicht vorbereitet." Er ist noch nicht so weit, er muss "sich erst zu einem passenden Kandidaten machen".

Mit dieser Szene, der ersten Erinnerung des Erzählers an seinen späteren Freund Henry, den Jungen, der genau zu wissen scheint, was er will und was er erreichen kann, beginnt Louis Begleys neuer Roman "Ehrensachen", in dessen Zentrum drei Harvard-Studenten aus ganz unterschiedlichen Milieus stehen, ihre Freundschaft, ihre Herkunft und Karrieren.

Sich neu schaffen

Sam, Archie und Henry heißen die drei Kommilitonen, die sich Anfang der 1950er Jahre am Harvard College kennen lernen. Sam, der Ich-Erzähler, wächst bei alkoholsüchtigen Adoptiveltern auf. Archie stammt aus einer alten Offiziersfamilie. Henry ist der Außenseiter des Trios, er trägt merkwürdige Kleidung, hat rote Haare und eine seltsame Aussprache. Henry White heißt er noch nicht lange. Er kam als Henryk Weiss in Krakau zur Welt, überlebte als Jude im Versteck den Holocaust und emigrierte 1947 mit den Eltern nach Amerika - genau wie Ludwig Beglejter alias Louis Begley.

Henry will sich freimachen von der Umklammerung durch seine Eltern, von der fast hysterischen Anhänglichkeit seiner Mutter. Henry aber will sich nicht einengen lassen, er ist kein religiöser Jude, den Glauben hält er für eine "grässliche Falle". Er will Margot, dem Mädchen im Tweed, seiner Traumfrau aus der High Society, auf Augenhöhe begegnen können.

"Ich werde mich neu schaffen nach meinem Bild von mir", ist Henry überzeugt. Ob er versuche, kein Jude mehr zu sein, wollen Archie und Sam wissen. "Solange es Leute gibt, die es kümmert, ob ich ein Jude bin, der vorgibt, keiner zu sein, so lange muss ich Jude bleiben", erwidert Henry. Dieses Bekenntnis zu seinem "Judismus", wie er es nennt, sei er sich schuldig, meint Henry, "es ist eine Ehrensache für mich".

Aufsteiger und Aussteiger

Louis Begleys Roman "Ehrensachen" handelt von den - nicht immer dramatischen - Spannungen zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Ambition und Anpassung, zwischen Bildung, Beruf und Bohème. Das über weite Strecken nicht eben spektakuläre Leben der Drei schildert Begley mit langem Atem und großem Einfühlungsvermögen, allein die Liebesverwirrungen und die - in der zweiten Hälfte des Romans sich häufenden - Todesfälle stören die Gemächlichkeit eines verhalten sich entwickelnden Sittenbildes.

Henry erlebt einen steilen Aufstieg als Anwalt, während Sam ein berühmter Schriftsteller wird und Archie schon früh bei einem Autounfall stirbt. Henry geht nach Paris und wird persönlicher Berater des schwerreichen Hubert de Saint-Terre, dessen Freundschaft er gewinnt. Als Saint-Terrres Bank die Verstaatlichung droht, ersinnt Henry einen Coup, der seinem Klienten nicht nur Verluste erspart, sondern neue Millionen einbringt, aber die Transaktion zu realisieren wäre politisches Gift, warnt er.

Sein Rat wird nicht befolgt, es kommt, wie von Henry befürchtet, die Männerfreundschaft geht in die Brüche. Tief enttäuscht zieht Henry die Konsequenzen. Er hängt seinen Beruf an den Nagel und beschließt zu verschwinden. "Mein Judismus ist mir geblieben, wie fauliger Atem", räsoniert Henry. "Ich lasse dieses verhasste Leben hinter mir. Ich verabschiede mich", sagt er zu Sam, dem Erzähler in Louis Begleys Roman, der von der Aufsteiger- zur Aussteigergeschichte wird.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 18. März 2007, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Louis Begley, "Ehrensachen", aus dem Amerikanischen übersetzt von Christa Krüger, Suhrkamp Verlag, 2007, ISBN 978-3518418703