Kritik am deutschen Bildungssystem

Kopfschüsse

Vor einem Jahr forderten Lehrer die Schließung der Berliner Rütli-Schule, weil sie der Gewalt durch Schüler nicht mehr standhalten könnten. Nun übt Brigitte Pick, die ehemalige Leiterin der Rütli-Schule, heftige Kritik am deutschen Bildungssystem.

Vor einem Jahr sorgte die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus für Schlagzeilen: Lehrer verlangten in einem Brandbrief an die Schulverwaltung die Auflösung der Schule, weil sie anders der Gewalt durch die Schüler nicht mehr standhalten könnten. "Rütli" ist seither das Synonym für Problemschule geworden. Brigitte Pick, bis 2005 Leiterin der Rütli-Schule, fasst in einem neuen Buch ihre Erfahrungen von 36 Jahren an der pädagogischen Front zusammen.

Probleme kommen und gehen

23 Jahre lang leitete Brigitte Pick die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln. Inzwischen ist die 60-Jährige im Vorruhestand, nachdem sie vor zwei Jahren einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Den verzweifelten Brief, mit dem sich ihre ehemaligen Kollegen vor einem Jahr an die Schulverwaltung wandten, kann sie nur bedingt nachvollziehen:

"In der Rütli-Schule gab und gibt es meiner Meinung nach genauso viele Probleme wie auf jeder anderen Schule auch", verteidigt sich Pick. "Es gibt Zeiten, wo sich ein Konfliktfeld zuspitzt, und es gibt auch wieder ruhige Zeiten."

Hilfeschreie von Lehrern

In ihrem Buch schildert Brigitte Pick, wie Lehrer sie mitten in der Stunde um Hilfe riefen, wenn sie in ihren Klassen unterzugehen drohten. Ebenso schonungslos wie einfühlsam beschreibt sie auch die Ausfälle der Schüler, die Gewalt in vielen Familien, aber auch die Lernfähigkeit vieler Eltern und die Einsicht der Schüler in ihr eigenes Verhalten. Insofern gelingt der Autorin, ein informatives und vielschichtiges Bild zu geben von der Schulsituation und den Problemen der einzelnen Beteiligten.

Was fehlt, ist das Kapitel Selbstkritik. Brigitte Pick hätte sich damit selbst einen guten Dienst getan, um dem Eindruck vorzubeugen, sie wolle ihren eigenen Anteil daran nicht sehen.

In einem Punkt stimmen Brigitte Pick und ihre früheren Kollegen allerdings überein: Die Hauptschule müsse abgeschafft werden, sie diene im dreigeteilten deutschen Schulsystem als Auffangbecken für Schüler, die weder von den Eltern noch von der Wirtschaft eine Perspektive aufgezeigt bekämen.

Voll Enthusiasmus begonnen

Geprägt von der 68er-Bewegung, hatte Brigitte Pick lange geglaubt, sie könne etwas ändern. Nach dem Abitur im noblen Stadtteil Zehlendorf hatte sie sich deshalb ganz bewusst für den Arbeiterbezirk Neukölln und die Rütli-Schule entschieden.

Als Rektorin ließ sie als eine der Ersten Schüler zu Streitschlichtern ausbilden, es gab ein Anti-Schwänzerprojekt und Fortbildungen für die Lehrer. Sie machte Hausbesuche und diskutierte mit den Schülern über Ehrenmord. Sie versuchte, arabische und türkische Muttersprachler und Sozialarbeiter an die Schule zu holen. Statt diesen wurden Lehrkräfte aus dem Ostteil der Stadt, die von Migrantenproblemen keine Ahnung hatten, hierher versetzt.

Es trifft die Schwächsten

Nach dem Brandbrief des Kollegiums vor einem Jahr bewilligte die Schulverwaltung Sozialarbeiter und neue Lehrer. Brigitte Pick betrachtet den Brief dennoch als einen Offenbarungseid. Vor allem bedauert sie, dass "Rütli" seither bundesweit zum Synonym für Problemschule geworden ist.

"Ich habe nichts dagegen, dass man sich wehrt und das auch zu Papier bringt oder einen Brief schreibt. Aber bei allem, was du tust, bedenke das Ende", meint Pick. "Hier war das Ende für die öffentliche Diskussion sehr wertvoll. Was ich bedauere ist, dass es wieder die schwächsten Glieder der Gesellschaft trifft, und das sind die Schüler, die kaum eine Chance haben, sich unter dem Signum Rütli zu bewerben, egal wie gut die Schule sich jetzt auch positioniert."

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Brigitte Pick, "Kopfschüsse. Wer PISA nicht versteht, muss mit RÜTLI rechnen", VSA Verlag, ISBN 978-3899652222