Durchschnittsbürger leben über ihre Verhältnisse
Russische Kreditprobleme
Große Autos, neue Wohnungen, teure Auslandsreisen: Überall dort, wo es bei russischen Durchschnittsbürgern einen enormen Nachholbedarf gibt, leisten sich die Verbraucher immer mehr auf Pump. Doch mit der Rückzahlung hapert es.
8. April 2017, 21:58
Johann Jonach über die derzeitige Situation
Lesen sie das Kleingedruckte! Für viele in Russland ist das eine sehr ernst zu nehmende Aufforderung geworden, denn in den russischen Millionenstädten wächst der Konsumdruck. An den Rändern der Großstädte entstehen riesige Einkaufszentren. Das Angebot lockt, und der russische Konsument ist Versuchungen ausgesetzt, die vor wenigen Jahren noch völlig undenkbar waren.
Auch die unaufgeforderte Zusendung von Kreditkarten ist eine Methode, neue Kunden zu akquirieren. Natürlich muss der neue Kunde dann ins Bankinstitut kommen und die nötigen Unterschriften leisten. Aber in einem Land, in dem laut Statistik nur die Hälfte der Bevölkerung überhaupt ein Konto besitzt, setzen einige Banken hier in sehr bedenklicher Weise auf die völlige Unerfahrenheit der Kunden.
Konsumentenschutz ein Fremdwort
Larissa Mitjaschowa, eine Juristin im russischen Bankenverband, hat immer wieder auch mit den Klagen von Kreditkunden zu tun. Ihr Ratschlag lautet: "Es gibt Banken, die ihre Kunden insofern betrügen, als sie nicht die wirklichen Kosten für den Kredit sofort deutlich machen. Deswegen sage ich immer: Lesen Sie alles genau durch! Und wenn Sie sich nicht auskennen, fragen Sie lieber zweimal: Dieses mangelnde juristische Verständnis unserer Kunden ist manchmal wirklich sehr gefährlich.
Konsumentenschutz ist in Russland derzeit noch ein Fremdwort. Aber auch die Banken haben Probleme: Eine einheitliche elektronische Auskunftsstelle über die Bonität der Kunden ist erst im Aufbau. Auf die Daten von Behörden, Finanzamt und Pensionskassen haben sie keinen Zugriff. Dokumentenfälschungen sind daher ein häufiges Übel. Die Folgen der Unsicherheit zahlt der Kunde: Kreditkosten von 20 bis 30 Prozent gelten als üblich. Dass daraus nicht durch zusätzliche Verpflichtungen 80 Prozent und mehr werden, dafür soll ein neues Gesetz sorgen, das die Banken ab 1. Juli dazu zwingt, die realen Kreditkosten für den Kunden auszuweisen.
Gefahr für das russische Bankensystem?
Zu den volkswirtschaftlichen Auswirkungen des durchschnittlichen russischen Kreditverhaltens gibt es sehr unterschiedliche Interpretationen. In einer internen Sitzung - so beschreibt es die Zeitschrift Russki Newsweek - soll der Zentralbankchef Sergej Ignatjew gewarnt haben: "Die faulen Privatkredite stellen eine Gefahr für das russische Bankensystem dar."
Diese Einschätzung kann der Vorstandsvorsitzende von Raiffeisen Russland, Johann Jonach, nicht teilen: "Der Gouverneur der russischen Zentralbank hat natürlich einen besseren Einblick: "Es ist richtig, dass sich die Problemkredite auf einen Gegenwert von einer Milliarde Euro verdreifacht haben. Auf der anderen Seite muss man sich vor Augen halten, dass sich in diesem Zeitraum das Volumen der Privatkredite auf 76 Milliarden Euro verdoppelt hat. Wenn man die beiden Zahlen ins Verhältnis setzt, ist das ein enormer Anteil. Für Jonach ist der Sektor Privatkredite noch unterrepräsentiert: "Fünf bis sechs Prozent des BNP werden in Russland als Privatkredit vergeben. Im Westen ist das ein Wert jenseits der 50 Prozent. In Österreich etwa 80 Prozent. Also das Wirtschaftspotenzial ist enorm."
Trotz sozialer Unterschiede enormes Wirtschaftspotenzial
Für Johann Jonach ist der Sektor Privatkredite noch ausgesprochen unterrepräsentiert: "Fünf bis sechs Prozent des BNP werden in Russland als Privatkredite vergeben. Im Westen ist das ein Wert jenseits der 50 Prozent, in Österreich etwa 80 Prozent. Also das Wirtschaftspotenzial ist enorm." Die Kaufkraft - so Jonach - ist in Russland allerdings ungleich verteilt. Zu den extremen Einkommensdifferenzen kämen auch noch extreme regionale Unterschiede: Die Großstädte seien der Provinz um Jahre voraus. Ein großer Teil der Bevölkerung sei allerdings von Konto, Kreditkarte und Überziehungsrahmen noch weit entfernt.
Die eigentlichen Probleme in diesem Segment der Branche sieht Johann Jonach daher auch nicht in der Ahnungslosigkeit der Kunden, als vielmehr in der Kompetenz derer, die leider immer auch zur Stelle sind, wenn es wo etwas zu verdienen gibt: "Es ist eher so, dass es auf der einen Seite wirklich die Unwissenheit gibt, auf der anderen Seite sehen wir auch eine Ausbreitung von Betrugsfällen, wo es organisierte Banden gibt, die es darauf anlegen, die Banken hinters Licht zu führen."
Unverschämte Kreditnehmer und -geber
Den Kreditnehmer, der auf die unverschämten Forderungen seiner unseriösen Bank mit unverschämter Zahlungsverweigerung reagiert und es darauf ankommen lässt - den gibt es natürlich auch. Oder die Kreditsuchende, die die Versicherung eines Kredits mit dem Argument verweigert, die Bank - ein namhaftes und weltweit tätiges Institut - gedenke jetzt wohl, ihr einen Auftragsmörder ins Haus zu schicken, um die Versicherungssumme zu kassieren.
Der Gesamteindruck ist jedoch ein anderer: Gesetzgeber und Banken versuchen bei einer raschen Entwicklung hin zu mehr Markt, mit den Bedürfnissen der Konsumenten Schritt zu halten. Dass da manches noch an eine Baustelle erinnert, darf einen bei 140 Millionen Kunden auch nicht allzu sehr verwundern.
Links
Vereinigung russischer Banken
Qualisteam - Russlands Banken