Im Gespräch: Annika Fechner
Beklemmende Welt
Eine junge Studentin aus Süddeutschland beschreibt in ihrem Buch "Hungrige Zeiten" in eindringlicher Form die inneren Konflikte, das Gedankenchaos, die Leiden und zerstörerischen Zwänge, denen sie während ihrer Krankheit ausgesetzt war.
8. April 2017, 21:58
Annika Fechner über ihre Krankheit
Annika Fechner schildert die Innenansicht einer beklemmenden Welt: die der Bulimiker und Anorektiker. Dabei wird auch klar, dass Essstörung nicht nur als Krankheit einzelner Menschen zu sehen ist, sondern als Krankheitssymptom einer Gesellschaft. Annika Fechners totaler Zusammenbruch kam, als die junge Frau knapp 30 kg gewogen hat.
Michael Kerbler: Ihr Vater ist mit Ihnen in seine Klinik gefahren, um Ihnen Blut abzunehmen. Er war dazu nicht in der Lage. Das hat dann ein Kollege gemacht. Es begann sozusagen der Einstieg in eine erste Konsolidierungsphase. Wann ist es Ihnen wirklich gelungen, vorsätzlich gelungen, aus dieser Abwärtsspirale auszusteigen? Als man Ihnen diese Infusionen gegeben hat, haben Sie das ja als Niederlage empfunden."
Annika Fechner: Es kursiert unter Magersüchtigen und Bulimikern dieses Gerücht, man muss erst mal ganz unten sein, um wirklich aufhören zu wollen. Das ist totaler Schwachsinn. Weil wenn man ganz unten ist, kriegt man gar nichts mehr mit. Es sind die hirnorganischen Prozesse so dermaßen gestört durch den Hungerkreislauf, dass man jenseits von Gut und Böse ist. Das trifft sicher auch auf mich damals zu, aber ich hab auch in der Klinik Leute erlebt mit einem BMI von zehn oder drunter, die konnten nicht mehr richtig sprechen, die hatten einen ganz starren Blick, die haben Wortfindungsstörungen gehabt, die Bewegungen waren ganz abgehackt und zackig, keine Koordination mehr. Also da war nichts, wo man sagen könnte: "Ah ja! Derjenige, der erkennt jetzt gerade, wo er steht." Da erkennt man gar nix in dem Zustand.
Da ist man darauf angewiesen, dass jemand von außen das erkennt und schnell handelt. Das ist ja auch so eine Theorie, die ich vertrete, dass ich sag: Therapierbar ist frühestens ab einem bestimmten BMI, einem bestimmten Gewicht. Davor ist bei lebensbedrohendem Untergewicht erst einmal Auffütterung notwendig. Und da können die Betroffenen noch so sehr jammern und schreien und klagen - wie ich's ja auch getan hab - und fast verrückt werden vor Entsetzen und Panik, dick zu werden. Aber es geht einfach darum, das nackte Leben zu retten. Da ist man aufgrund der kognitiven Leistungen nicht in der Lage, eine Therapie zu machen. Das ist eine erstaunliche Erfahrung, mit der ich auch nicht alleine bin: mit jedem Kilo mehr kommt man immer mehr zurück ins Leben und ist auch in der Lage, Dinge anders wahrzunehmen und Zusammenhänge wieder klar zu erfassen.
Ein Zitat aus Ihrem Buch: "Die eine Annika sagt ja, ich will gerne gesund werden und meine Träume verwirklichen. Und die andere sagt, nein - ich bin eine dicke fette plumpe und wertlose Kuh, die keine Rechte hat und die sich nichts gönnen darf." Wie sind sie da rausgekommen? Wie haben Sie sich ausgetrickst? Wie haben Sie der ersten Annika geholfen, sich gegen die zweite durchzusetzen?
Ich denke, es ist ein Prozess. Diese zweite Annika, oder diese Stimme ist auch nicht völlig verschwunden. Aber eine Therapeutin in der Klinik hat einmal zu mir gesagt: "Meinung kann man ändern. Und das Bild, das Sie von sich haben, oder das, was Sie von sich denken, ist nichts als Meinung, ein Vorurteil. Und auch das können Sie ändern." Das klingt im ersten Moment so wie aus dem Lehrbuch, aber es stimmt. Ich kann meine Meinung über mich ändern, aber ich muss grundsätzlich auch dazu bereit sein. Ich glaube, für viele Essgestörte hat es auch eine Funktion zu sagen "ach ich bin so Scheiße" , weil da muss ich mich mit Vielem nicht auseinandersetzen.
Hör-Tipp
Im Gespräch, Donnerstag, 1. März 2007, 21:01 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
CD-Tipp
"Im Gespräch Vol. 7", ORF-CD, erhältlich im ORF Shop
Links
Essstörungen - Forschung, Lehre, Therapie
Essstörungshotline
S-O-ESS - Wiener Kampagne gegen Essstörungen
Wiener Programm für Frauengesundheit