Erfundene Inseln, erfundene Gauner
Liebenswerte Flunkereien
Am Westabhang des Kaukasus liebt man gutes Essen und verrückte Geschichten. Während aber die georgische Tafel einem strengen Zeremoniell folgt, ist einem guten Geschichtenerzähler alles erlaubt, was zum Lachen verführt, auch politische Anspielungen.
8. April 2017, 21:58
Es scheint in Georgien und rundherum eine Menge an anarchischem Potenzial zu geben - was sich natürlich in den politischen Gegebenheiten bemerkbar macht, aber auch in den verschiedenen literarischen Produktionen. Nur beim Essen, da achtet man auf strenges Reglement.
Hüten Sie sich, ein freundliches gemeinschaftliches Nahrungsaufnehmen schlicht "Gastmahl" oder gar bloß "Essen" zu nennen, denn die korrekte Bezeichnung ist "Georgische Tafel" oder Supra. Vier Elemente gehören unverzichtbar zu einer Supra: Wein und Speisen, Gesang und Trinksprüche. Und damit jedes dieser vier Elemente ausreichend und in harmonischer Abwechslung gewürdigt werde, wird ein Zeremonienmeister bestimmt, ein Tamada. Er zelebriert die Trinksprüche in der seit alters her überlieferten hierarchischen Reihenfolge, bittet die Sänger um das eine oder andere Lied und achtet generell darauf, dass keiner der Gäste vernachlässigt wird, oder schlechte Stimmung aufkommt.
Ein Hoch auf die Anarchie!
Gemessen daran ist "Santa Esperanza", der jüngste Roman des in ganz Georgien als Kultautor gefeierten Aka Morchiladze, ein Loblied auf die Anarchie. 850 Seiten in 36 Häppchen, Verzeihung: Heftchen zu je 24 Seiten aufgeteilt, die man in beliebiger Reihenfolge lesen kann. Nun gut, das Prinzip ist nicht neu, in der Musik gibt es dieses Verfahren unter dem Begriff Aleatorik, heftig praktiziert in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, als esoterisch-musikalische Spielerei aber schon im Mittelalter und auch von Wolfgang Amadeus Mozart praktiziert.
Selbstverständlich bietet der Autor im Vorwort mehrere Wege durch das Gestrüpp seiner Puzzlegeschichte an, die ein erfahrener Leser selbstverständlich nicht beachtet. Und egal, wie man diese literarische Wirrnis bewältigt, die Botschaft ist eindeutig: Das Leben ist Chaos, vor allem das Leben in einem Machtvakuum, deshalb kann ein Buch, das sich mit dem Leben in einem von den Mächtigen verlassenen oder befreiten Territorium beschäftigt, auf keinen Fall in geordneter Form angeboten werden.
Man kann "Santa Esperanza" als satirischen Angriff auf die EU verstehen, teilweise jedenfalls. Man kann aber auch eine als Schelmenroman verschlüsselte Analyse der postsowjetischen Realität Georgiens herauslesen beziehungsweise hineingeheimnissen. Oder harsche Schelte verfeindeter Gruppierungen, Familienclans oder sonstiger Seilschaften. Oder einen Appell ans Gemeinsame. Oder man nimmt Santa Esperanza als ganz normalen, wenn auch ein wenig verrückten Roman - falls man einen Roman, der nach dem Vorbild eines erfundenen Kartenspiels gestaltet wurde, normal nennen kann - in dem es viele Hauptpersonen und einen fantastischen Schauplatz gibt: Santa Esperanza, eine Inselgruppe im (fast) insellosen Schwarzen Meer
Jede Menge Pseudonyme
Ebenso erfunden wie die Inselgruppe ist Aka Morchiladze selbst! Der Name ist eines von vielen Pseudonymen, das sich Gio Akhvlediani in seinen journalistischen Anfängen als Parlamentsberichterstatter zugelegt hatte. In einem Interview stellt er zwei Tatsachen unkommentiert nebeneinander. Eins: Wenig Geld gab es für diesen Job. Zwei: Niemandem fiel auf, dass in dieser Zeit in mehreren georgischen Zeitungen wortgleiche Parlamentsberichte von verschiedenen Journalisten veröffentlicht wurden.
Diese "Menschen" verschwanden - was auch niemand bemerkte - als Aka Morchiladze Zeitungsherausgeber wurde und seine erste Erzählung veröffentlichte. Seither sind 15 Jahre vergangen, mehrere seiner Romane sind erschienen, wurden ausgezeichnet und verkauften sich in Georgien sehr gut: 15.000 Exemplare allein im Jahr 2003! Und jetzt die allererste Übersetzung überhaupt!
Liebenswürdige Gauner
Georgische literarische Gauner und Abenteurer gehören übrigens zu den liebenswürdigsten in der Bücherwelt. Sie haben nur eine wirklich schlechte Eigenschaft: Sie sind schwer zu finden. Kwatschi K. zum Beispiel ist in Georgien berühmt, nicht nur weil er Casanova, Münchhausen, Till Eulenspiegel, Winnetou und der Graf von Monte Christo in einer Person ist, sondern auch, weil seine bevorzugten Opfer allesamt Russen sind. Sogar Rasputin wurde von ihm reingelegt!
Sein geistiger Vater Michail Dschawachischwili floh vor den zaristischen Behörden nach Paris, blieb aber nicht lange: Das Heimweh trieb ihn zurück in die Heimat, wo er aufgegriffen und verbannt wurde. Erst nach dem Ersten Weltkrieg schien es für ihn ein geordnetes Leben in Tiflis zu geben - bis auch die Bolschewiken ihn jagten.
Mein Lieblingsaufschneider aus dem Kaukasus aber ist und bleibt der von Fasil Iskander erfundene Sandro von Tschegem, der verschiedenes Despektierliches von einem Georgier namens Dschugaschwili, besser bekannt als Stalin, zu erzählen weiß - und der zu Tode beleidigt wäre, würde man ihn als Georgier bezeichnen, wo er doch Abchase ist!
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Uraltes Kulturland Georgien
Die geraubte Braut
Abchasien, eine Region am Schwarzen Meer
Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 1. März 2006, 11:40 Uhr
Buch-Tipps
Nana Ansari, "Die georgische Tafel", Mandelbaum Verlag, ISBN 3854761341
Aka Morchiladze, "Santa Esperanza. Ein Kosmos aus vielen Romanen", Pendo Verlag, ISBN 386612094x
Miachail Dschawachischwili, "Das fürstliche Leben des Kwatschi K. Ein Gauner- und Schelmenroman aus Georgien", Scherz Verlag, ISBN 3502101582
Fasil Iskander, "Belsazars Feste. Aus dem Leben des Sandro von Tschegem", S. Fischer Verlag, ISBN 3100347021