Experten sehen Annäherung an Hartz IV

Wer von der Mindestsicherung profitiert

Die Koalition hat eine bedarfsorientierte Mindestsicherung von 726 Euro angekündigt. Nun rätseln Laien, wer etwas davon haben wird, während Experten zweifeln, ob damit Armut bekämpft werden kann. Steckt auch das umstrittene deutsche Hartz-Modell dahinter?

Am Montag startete die Regierung ihre Arbeitsgruppe zum Thema der "bedarfsorientierten Mindestsicherung". Im Vorfeld der Wahlen war noch hauptsächlich die Rede von einer "bedarfsorientierten Grundsicherung" gewesen - von der SPÖ in einer Höhe von 800 Euro auch für Arbeitslosengeld- und Notstandshilfebezieher und -bezieherinnen angedacht.

Die neue Regierung hatte am 21. Dezember vorigen Jahres schließlich den koalitionären Kompromiss präsentiert: eine "bedarfsorientierte Mindestsicherung", in der Höhe von 726 Euro brutto, 14-mal jährlich, orientiert am Ausgleichszulagenrichtsatz für Pensionisten und Pensionistinnen.

Anspruch auf Grundsicherung eingeschränkt

Personen, die Arbeitslosengeld beziehen, haben nun keinen Anspruch mehr auf eine Grundsicherung, Personen, die Notstandshilfe beziehen, in eingeschränktem Maß. Statt einer Sockelung in den verschiedenen Bereichen der Sozialversicherung verzeichnet das Regierungsprogramm eine abgespeckte, komplexe und auch diffuse Variante von Mindestsicherung, mit deren Interpretation die Fachleute ihre Mühe haben.

Wer profitiert nun tatsächlich? Und wie? Und: inwieweit wird der Anspruch eingelöst, mit diesem Grundsicherungsmodell Armut zu bekämpfen? Inwieweit lässt es sich mit dem deutschen Reformprojekt "Hartz IV" vergleichen?

Arbeitslose profitieren

"Profitieren werden mit Sicherheit Arbeitslose, deren Nettoeinkommensersatzrate von 55 auf 60 Prozent angehoben werden soll", fasst Nikolaus Dimmel, Professor für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der juristischen Fakultät der Universität Salzburg, zusammen. Und: "Ändern soll sich auch die Anrechnung der Partnereinkommen in der Notstandshilfe sowie die Richtsatzhöhe in der Sozialhilfe".

Wobei der auf 726 erhöhte Richtsatz bereits von der vorigen Regierung beschlossen worden und nunmehr lediglich als Baustein in das Mindestsicherungsmodell eingefügt worden sei, so Dimmel. Ob die 726 Euro, die 14 mal jährlich ausbezahlt werden sollen, tatsächlich für alle Sozialhilfebezieher eine Erhöhung ihrer bisher bezogenen Leistung bedeuten werden, ist allerdings fraglich, denn der künftige Richtsatz gilt als Pauschale, in die die Wohnkosten mit einberechnet sind - die derzeitigen Sozialhilferichtsätze der Bundesländer setzen sich aus Einzelleistungen zusammen und erreichen teilweise Höhen von über 726 Euro.

Buchinger verteidigt Pauschalisierung

Sozialminister Erwin Buchinger kann sich zwar vorstellen, ein System regionaler Zuschläge einzurichten, verteidigt die Pauschalisierung aber grundsätzlich als "sozial gerechter", "unbürokratisch" und notwendiges Movens dafür, dass sich Sozialhilfebezieher gegebenenfalls günstigere Wohnungen suchen.

Inwieweit beim "Einsatz des eigenen Vermögens", das für Sozialhilfeempfänger vorgesehen ist, Schonvermögen ähnlich wie im Sozialhilferecht angerechnet werden, steht derzeit noch nicht fest. Ein für die Berufsausübung notwendiges Auto darf jedenfalls nicht verwertet werden, eine "selbst bewohnte Eigentumswohnstätte" des Sozialhilfebeziehers soll in seinem Besitz bleiben, aber mit einer "fiktiven Miete" belegt werden.

Wo liegt die Armutsschwelle?

Minister Buchinger möchte vor allem registriert wissen, dass das vorliegende Modell der Armutsbekämpfung dienen soll - und stößt genau damit auf heftige Kritik: "Armutsschwelle ist gleich das, was die Regierung als solches administrativ für sich festlegt", so Staatswissenschaftler Emerich Talos, der Ausgleichszulagenrichtsatz für Pensionisten nämlich und nicht, wie die EU-Gemeinschaft definiert, der Betrag, der sich aus 60 Prozent des Medianeinkommens im jeweiligen Land errechnet - in Österreich ein Betrag von derzeit rund 800 Euro.

"Das heißt", so Talos, "all das Gerede, dass damit Menschen über die Armutsschwelle gehoben werden, trifft schlicht nicht zu."

Sozialhilfeempfängern dem AMS unterstellt

Für Minister Buchinger sind Sozialhilfeempfänger unterdessen nicht nur Profiteure in finanzieller Hinsicht. Künftig sollen nämlich arbeitsfähige von arbeitsunfähigen Sozialhilfeempfängern getrennt und dem Arbeitsmarktservice unterstellt werden: "Diesen Menschen damit Chancen zu eröffnen, Unterstützung zu bieten, Förderung zu geben, das ist geradezu eine revolutionäre Tat", erklärt Buchinger.

Dem AMS unterstellte Sozialhilfeempfänger werden künftig aber nicht nur Qualifizierungs- und andere Fördermaßnahmen wahrnehmen können, sie werden vermutlich auch den Zumutbarkeitsbestimmungen des Arbeitslosenversicherungsrechts unterworfen werden. Und das brächte, so Sozialwissenschaftler Dimmel, "empfindliche Verschlechterungen": "Weil die gegenwärtige Sozialhilfekonstruktion eine ganze Reihe von Tatbeständen vorsieht, wo Leute unter Hinweis von familiären Verpflichtungen die Zumutung von Arbeit zumindest vorübergehend außer Kraft setzen können. Dieses ist im gegenwärtigen Regulativ des Arbeitslosenversicherungsrechts nicht möglich."

Stimmt nicht, so Buchinger, schon bisher hätten für Bezieher von Arbeitslosengeld und Sozialhilfeempfänger die gleichen Regelungen gegolten, sie seien aber kaum realisiert worden.

Warnung vor restriktiver Ausgestaltung

Emerich Talos warnt vor einer restriktiveren Ausgestaltung der Zumutbarkeitsbestimmungen und verweist auf den "Fehlweg", auf den sich Deutschland unter anderem auf diese Art mit der Hartz-IV-Reform begeben habe. Buchinger will das österreichische Modell mit der deutschen Reform nicht verglichen wissen, räumt aber eine Übereinstimmung darin ein, "dass Arbeitslosengeld und Sozialhilfe oder Notstandshilfe und Sozialhilfe in der Betreuung durch das Arbeitsmarktservice verschmolzen werden."

In Deutschland wurden mit Hartz IV Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe - der österreichischen Notstandhilfe entsprechend- zum Arbeitslosengeld II zusammengelegt.

Gemeinnützige Arbeitsprojekte

Aufmerken lässt auch die Ankündigung im Regierungsprogramm, Langzeitarbeitslose künftig in "gemeinnützige Arbeitsprojekte" einbinden zu wollen. Für Emerich Talos eine weitere Annäherung an Hartz IV: "Die Mindestsicherung wird eng verknüpft mit neuen Regeln des Arbeitszwanges", so Talos.

Sozialminister Buchinger weist das zurück: "Es ist eine Denunziation, hier von Arbeitszwang zu sprechen".

Deutschland warnt vor Lohndumping

Kommentar aus Deutschland: "Ich kann Österreich nur warnen, stark auf Gemeinnützigkeit zu setzen", so Ronald Blaschke, Mitbegründer des Netzwerkes Grundeinkommen in Deutschland. Die Einführung von 1-Euro-Jobs - Jobs für Grundsicherungsempfänger, die mit einer Mehraufwandsentschädigung in der Höhe von 1 bis 1,5 Euro pro Stunde entlohnt werden, die überdies nicht arbeitsrechtlich, sondern sozialrechtlich definiert sind - hat zur Folge gehabt, dass arbeitsrechtlich abgesicherte Stellen verdrängt wurden, Lohndumping und eine Wettbewerbsverzerrung eingesetzt haben, die mittlerweile auch Unternehmer auf die Barrikaden treibt.

Blaschke: "Es gibt bei uns eine breite Bewegung, die auf Grundlage des internationalen Verbots von Zwangsarbeit Gerichtsprozesse anstrengt und dafür, dass Menschen unter Sanktionsdruck in Arbeit gezwungen werden, Entschädigung verlangen möchte." Bisheriger Nutzen des 1-Euro-Job-Programms in Deutschland: Lediglich 15 Prozent der betroffenen Menschen konnten derart in den ersten Arbeitsmarkt zurückfinden.

Österreichisches Mini-Hartz?

"Was im Regierungsprogramm steht, ist sicher keine Grundsicherung und auch keine bedarfsorientierte Mindestsicherung", resümiert Sozialexperte Martin Schenk, "sondern eine schlichte Sozialhilfereform, deren Eckpunkte noch unklar sich - weil noch nicht klar ist, wie Vermögen angerechnet werden, das Verhältnis zum Arbeitsmarkt geklärt wird, Partner und Partnerinnen im Haushalt angerechnet werden - all das ist entscheidend, ob es sich bei diesem Modell um Armutsbekämpfung handelt oder um eine Art österreichisches Mini-Hartz."

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