Am Beispiel Brick Lane, London
Parallelgesellschaften
Parallelgesellschaften von Einwanderern gelten seit den Londoner Terroranschlägen und den Unruhen in den Pariser Vorstädten als gefährlich: Sie sind aber auch Schutzraum. Eine Reportage aus dem Londoner East End.
8. April 2017, 21:58
Sonntagmorgen in der Brick Lane in London. Die Gegend rund um die legendäre Straße wird auch Banglatown genannt, wegen der vielen Einwanderer aus Bangladesch. Es ist Markttag, zwischen bröckelnden Backsteinmauern und Bretterzäunen verkaufen die Standler ab sechs Uhr morgens Gemüse, billige Kleidung, alte Fahrräder sowie allerlei Ramsch. Man ist unter sich, Englisch wird nur selten gesprochen. Manche Touristen sind bestürzt, wenn sie die angebotenen Waren betrachten.
Zia Haider Rahman ist ein Menschenrechtsanwalt aus Bangladesch, er arbeitet für eine Organisation, die sich Open Society Justice Initiative nennt. Zia verteidigt die Lebensweise seiner Landsleute, kritisiert aber zugleich die konservativen Strukturen in der Gemeinschaft, sie machen es den Frauen schwer sich zu integrieren. In vielen Familien werden die Frauen bewusst abgeschottet, sie dürfen nicht arbeiten gehen. Viele könnten nicht einmal genug Englisch, um Einkäufe zu erledigen.
Integration durch Spracherwerb
Die Regierung Blair hat eine ganze Reihe von Gesetzen zur Gleichbehandlungen ethnischer Minderheiten eingeführt. Die Bezirksverwaltungen in Großbritannien haben im letzten Jahr schätzungsweise mehr als 37 Millionen Euro für Übersetzungen ausgegeben. Wer zum Arzt oder zu einer Behörde muss, bekommt einen Dolmetscher zur Verfügung gestellt. Broschüren und amtliche Dokumente sind mehrsprachig abgefasst. Dies geschieht nicht zum Wohl der Betroffenen, meint Zia Haider Rahman.
"Ich bin sehr besorgt, denn diese Übersetzungsdienste untergraben den Anreiz, Englisch zu lernen, und sie verstärken manche Probleme, die diese Frauen dabei haben, hinauszugehen und sich in England zu integrieren", sagt Zia Haider Rahman. Langfristig müssten diese Menschen in Großbritannien eingebunden werden und Englisch sprechen, um voll an der Gesellschaft teilnehmen zu können.
Mehr Bildung für Frauen
Für Zia ist die Bildung der Frauen der Schlüssel zur Verbesserung der Lebenssituation: "Wenn man einer Frau Bildung ermöglicht, ermöglicht man das einer ganzen Familie. Frauen können der Auslöser für Veränderungen in der Familie sein. Und ich beziehe mich auch deshalb auf Frauen, weil sie die Opfer massiver und andauernder Misshandlungen durch ihre Ehemänner sind. Diesen Misshandlungen wird von Multikulturalisten aber keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt", so Zia Haider Rahman.
Ein paar Stationen weiter mit der Dockland-Bahn ist ein Platz mit einem künstlichen Teich, East India heißt die Haltestelle. Neue Bürogebäude ragen in den Himmel, das Bezirksamt hat hier seinen Sitz. Die weitläufige Empfangshalle erinnert an ein Hotel. Die Mitarbeiter gehören fast allesamt einer ethnischen Minderheit an. Von der Armut des Bezirks ist hier wenig zu spüren, die Atmosphäre ist gepflegt. Anwara Ali, praktische Ärztin aus Bangladesch und Bezirksrätin, versprüht Optimismus. Sie kennt die Situation der Frauen in Tower Hamlets, es werde aber sicher niemand gehindert Englisch zu lernen. Es sei viel mehr eine Frage der Infrastruktur. Es fehle an Kinderbetreuungseinrichtungen, erklärt Anwara Ali.
Irreführende Bilder
Nach einer Umfrage der Zeitung Times wünschen sich mehr als 65 Prozent der Migranten in Großbritannien eine bessere Integration. Die Terroranschläge vor zwei Jahren haben diese Bemühungen auf beiden Seiten um Jahre zurückgeworfen, sagt Anwara Ali. Misstrauen und Vorurteile dominieren den Alltag. Die Schuld daran gibt sie den Medien und nicht den Selbstmord-Attentätern: "Nehmen wir die Tower Hamlets. Waren die Selbstmordattentäter von hier? Nein. Gab es hier Krawalle? Nein. Es werden Beispiele von ganz wo anders aufgeführt, auf die die Gemeinschaft überhaupt keinerlei Einfluss hat", erklärt sie.
Tower Hamlets sei für viele Migrantinnen und Migranten nur eine Zwischenstation, sagt Anwara Ali. Wer sich erfolgreich integriere und einen besseren Job gefunden habe, ziehe weg, in einen besseren Bezirk oder gleich aufs Land.
Der Platz wird dann frei für neue Zuzügler, heute kommen sie aus Bürgerkriegsländern wie Somalia und Afghanistan oder aus Osteuropa. Tower Hamlets erfüllt eine Funktion, die es seit Jahrhunderten hat: ein Rettungsanker für Verfolgte und Flüchtlinge auf dem Weg in eine bessere Welt.
Links
Open Society Justice Initiative - Zia Haider Rahman
Tower Hamlets