Terrorismus von der nächsten Generation aus betrachtet

Für die RAF war er das System, für mich der Vater

Für ihr Buch über den deutschen Terrorismus hat Anne Siemens Zeugen von RAF-Verbrechen befragt, aber auch und vor allem
die Söhne und Töchter der von der RAF Ermordeten. Das Buch ist wohltuend sachlich, knapp, informativ und kommentiert nicht.

1970 wurde die RAF, die Rote Armee Fraktion, gegründet, 1998 wurde sie wieder aufgelöst. Während dieser Zeit wurden Botschaften besetzt, Flugzeuge entführt und Menschen ermordet, wurden Überfälle und Sprengstoffanschläge auf Banken und Polizeikommissariate verübt, auf Gefängnisse, Verlage und US-Einrichtungen.

Fünf RAF-Anschläge werden nun von Anne Siemens neu beleuchtet: der Überfall und die Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm 1975, die Ermordung des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Jürgen Ponto, 1977, die Entführung und Ermordung des deutschen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer, sowie das Kidnapping der Lufthansa-Maschine "Landshut", ebenfalls 1977, und die Ermordung von Gerold von Braunmühl knapp zehn Jahre später.

In ihrem Buch mit dem Titel "Für die RAF war er das System, für mich der Vater" kontrastiert Siemens die Rekonstruktion von Tathergängen mit den Stimmen von Hinterbliebenen und Zeugen. Heraus kommt mehr als ein Psychogramm der Betroffenheit, nämlich eine - in den meisten Fällen - sehr differenzierte Wahrnehmung der Ereignisse, die auch Fragen aufwirft zu Fehlern und Versäumnissen im Umgang mit dem Terrorismus.

"Natürlich kann geschossen werden"

Für die RAF, die sich als Avantgarde einer "Weltrevolution" sah, war das System der Bundesrepublik ein repressives System, beherrscht von "Ausbeutern", von "Justiz- und Bullenschweinen", mit denen jede Diskussion sinnlos sei: "Es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden", erklärte Ulrike Meinhof. Die RAF tötete Diplomaten und Manager, den Generalbundesanwalt Buback und den Chef des Rüstungskonzerns MTU, den Bankier Herrhausen und den Chef der deutschen Treuhand.

Sie erschoss aber nicht nur so genannte "Charaktermasken", wie sie Menschen in Führungspositionen nannte, sondern auch Chauffeure, Polizisten, Sicherheitsbeamte und Soldaten. Dass diese Taten lange Zeit als politische Verbrechen betrachtet wurden, stößt bei vielen der von Anne Siemens Befragten auf Unverständnis. Für sie waren und sind es kaltblütige Morde.

"Es gibt einen roten Faden, der sich durch das Buch zieht: dass keiner meiner Gesprächspartner den Rechtsstaat oder seine Mittel in Frage stellt", so Anne Siemens, "sondern im Gegenteil Respekt und Achtung dafür hat - und das auch abgespalten sieht von der eigenen Betroffenheit."

Misstrauen in die Politik

"Für mich war das Attentat auch eine Freiheitsberaubung", sagt Corinna Ponto, Tochter des 1977 erschossenen Bankiers. "Die Täter fanden darin ihre Identität. Wir bekamen eine aufgezwungen. Das hasste ich." Doch ansonsten ist von Hass in Anne Siemens' Opfer-Befragungen so gut wie nie die Rede.

Die Erfahrung des RAF-Terrors hat die Braunmühls, Schleyers oder Pontos nicht zu verbitterten Menschen gemacht und nicht zu politischen Hardlinern, allerdings räumen sie ein, "ein trauriges Misstrauen in die Politik entwickelt" zu haben. Sie glauben, ein Otto Schily und ein Joschka Fischer, der eine als RAF-Anwalt, der andere als prügelnde Randfigur der Studentenbewegung, hätten das "Sympathisantenfeld" der Terroristen gestärkt. Sie beklagen, dass der Staat erst durch die RAF zu einem Überwachungsstaat geworden ist, und kritisieren den Ruf nach immer stärkeren Gesetzen.

Sachlich und informativ

Das Buch "Für die RAF war er das System, für mich der Vater" bietet eine spannende und aufschlussreiche Lektüre auch für diejenigen, die keine eigenen Erinnerungen haben an den Protest der 68er, aus dem der deutsche Terrorismus hervorging, an den blutigen Herbst 1977 und die mysteriösen Selbstmorde von Baader, Ensslin und Raspe. Dabei formuliert Anne Siemens' Buch eher Fragen als Erklärungen, liefert eher Mosaiksteinchen, als ein umfassendes Bild. Dass es unvollständig bleibt und ergänzungsbedürftig, ist kein Vorwurf.

"Erweitert man den Blick auf die Geschichte der Opfer nicht, sieht man die Toten durch den Filter, durch den die RAF sie wahrgenommen hat", sagt Anne Siemens, deren Buch mit dem Untertitel "Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus" nun erstmals einen Perspektivenwechsel vornimmt. Er macht die Sinnlosigkeit des Terrors, die Absurdität seiner Begründung, die Blindheit und Selbstgerechtigkeit der Täter schmerzhaft deutlich.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Anne Siemens, "Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus", Piper Verlag, ISBN 978-3492050241