Psychoanalytische Studie zur Trennungsangst
Die Melodie des Abschieds
Sylvia Zwettler-Ottes wissenschaftlich fundiertes Buch ermöglicht mit zahlreichen Fallbeispielen samt Kommentaren leicht das Verstehen und gibt so Hilfe bei der Suche nach einem besseren Verständnis für die eigenen Trennungsängste.
8. April 2017, 21:58
Sylvia Zwettler-Otte ist praktizierende Psychoanalytikerin in Wien und Autorin. Ihre bisherigen Bücher behandeln unter anderem wissenschaftshistorische Themen, wie zum Beispiel die Frage nach Freuds Rezeption in der zeitgenössischen Presse, oder sie beleuchten spezielle Aspekte der Pädagogik aus der Sicht der Psychoanalyse.
Wie schon bei Sigmund Freud, dem Begründer der psychoanalytischen Weltsicht, erscheinen auch bei Sylvia Zwettler-Otte die Patientinnen und Patienten aus der Praxis später in ihren Büchern, streng anonymisiert natürlich, und nicht persönlich wiedererkennbar! Die Patienten sind in dem Buch "Figuren" geworden, quasi literarisierte Repräsentanten einer bestimmten Grundhaltung, oder eines bestimmten Problems:
Sich dem Problem stellen
Abschied, so Sylvia Zwettler-Otte, ist eines der Themen, denen man sich, allein oder mit Hilfe eines Profis, einfach stellen muss. Spätestens wenn die eigenen Eltern hinfällig werden und sterben, und wenn man selbst nicht mehr alles so gut kann wie früher, muss man sich auf die eine oder andere Art damit befassen.
Trennung ist ein Thema, das man zum Ausgangspunkt einer Betrachtung unseres gesamten Seelenlebens machen könnte, ruft es doch nach seinem Gegenpol, der Bindung. Diese wiederum hat mit Liebe zu tun. "Trennung" führt uns, wie die Liebe, zu den Anfängen unseres Lebens zurück und weist uns auf unsere Vorstellungen vom Ende unseres Lebens voraus.
Thema der Literatur
In den Werken der Dichter, so sagen viele Psychoanalytiker, würde man gehäuft so genannte "blitzartige" Einsichten finden, die für den psychoanalytischen Erkenntnisprozess nutzbar gemacht werden können. Und sind nicht Abschied, Trennung und Trennungsangst ebenso große Themen der Literatur wie Liebe oder Schönheit? Liebe und Schönheit enden irgendwann, ob wir wollen oder nicht, und mit diesem Ende befassen sich viel mehr von unseren Gedanken und Gefühlen, als wir selbst wahrhaben wollen.
Trennungsängste ziehen sich in den unterschiedlichsten Nuancen durch unser aller Leben: von der Geburtsangst bis zur Todesangst. Die Trennungsangst ist ein psychisches Phänomen, das im Kampf gegen die Vergänglichkeit mitwirkt, Nachkommen zu zeugen und zu gebären. Sie lässt aus dem Wunsch nach Ewigkeit heraus Kunstwerke schaffen, die das eigene Leben überdauern sollen. Und sie lässt Religionen gründen, welche die Trennungsängste absorbieren und Wiedervereinigung oder ewige Verschmelzung in Aussicht stellen.
Fallgeschichten, Kommentare und Zitate
"Trennung und Alter", "Trennung und Kreativität" oder "Die Gefahr von Verlust und unser Wissen um Vergänglichkeit" lauten einige der Kapitel des Buches von Sylvia Zwettler-Otte, das in einer Mischung aus Fallgeschichten, Kommentaren und Zitaten das Thema "Abschiedsangst" zu umkreisen versucht. Dem Leser, der vielleicht zunächst nur die Dramatik der besonderen Fälle wahrnimmt, wird während der Lektüre ein Begriff davon vermittelt, wie oft in einem ganz normalen Leben man sich eigentlich "trennen" muss.
Um einen Abschied leichter und mit weniger Angst zu bewältigen, gibt es in unserer Kultur eine ganze Anzahl von Ritualen. Zu den bewussteren unter ihnen gehören Begräbnisse, Scheidungen oder Abschiedsfeste, zu den weniger bewussten zum Beispiel das berühmte "Fluchtachterl", oder auch das endlose Auf-der-Straße-stehen, wenn man sich schon längst verabschiedet haben sollte. Kluge Eltern lehren ihr Kind den Abschied vom verwelkten Blumenstrauß ebenso, wie den Abschied von den Nachbarskindern im Falle eines Umzugs, damit das Kind später nicht von größeren Abschieden allzu sehr getroffen wird.
Für Laien verständlich
Man kann das wissenschaftlich fundierte Buch auch als Laie durchaus wählerisch lesen. Denn die Fallgeschichten verleiten dazu, sich später auch die Kommentare vorzunehmen, und ein Hin-und Herspringen im Buch verhindert nicht das Verständnis, sondern verändert lediglich den Verständnis-Prozess. So leistet das Buch im Kleinen vielleicht bereits etwas Ähnliches, was eine gelungene Psychoanalyse im Großen bewirken kann: nämlich Hilfe zu geben bei der Suche nach einem besseren Verständnis für die eigenen Lebens-Motive.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Sylvia Zwettler-Otte, "Die Melodie des Abschieds. Eine psychoanalytische Studie zur Trennungsangst", Kohlhammer Verlag, 2006, ISBN 978-3170186484