Eine Bestandsaufnahme über die Jugendwohlfahrt

Die Kinder und das Jugendamt

Mehr als 10.000 Kinder leben nicht bei ihren Eltern, weil sich das Jugendamt eingeschaltet hat. In weiteren 20.000 Familien besteht Bedarf an Unterstützungsmaßnahmen. Das ist der alltägliche Hintergrund, vor dem die spektakulären Katastrophen passieren.

Kinder einer Jugendwohlfahrt-WG erzählen

Immer wenn etwas passiert, heißt es, das Jugendamt hätte früher einschreiten müssen. Andererseits beschweren sich viele gegen die Einmischung staatlicher Stellen in die Privatsphäre der Familie. Was stimmt nicht im Kontakt zwischen dem Jugendamt und den Familien? Und wo müsste man ansetzen?

Amtsbekannt, verwahrlost, gestorben

Drei Mädchen: Verwahrlost! Warum hat niemand geholfen? Alle sind überrascht, entsetzt, und beteuern, dass sich vieles ändern wird, damit so etwas nie wieder vorkommt. Schuld wird zugewiesen, Schuld wird abgewiesen. So geschehen in den letzten drei in Österreich vorgefallenen Fällen Iris-Maria, Alexander und Martina: Baby Iris-Maria, gestorben an den Misshandlungen ihres Vaters, Baby Alexander, schwerbehindert nach dem heftigen Geschüttelt-Werden von seinem Stiefvater, das Mädchen Martina, verhungert in der "Obhut“ ihrer Mutter, und nicht verhindert durch den Sozialarbeiter, der inzwischen verurteilt wurde.

Alle Familien sind zumindest "amtsbekannt“ - "vom Jugendamt betreut“ würde zu weit gehen.

Kindesabnahme - eine schwierige Entscheidung

"Normalerweise gibt es eine geringe gesellschaftliche Aufmerksamkeit für diesen Bereich, obwohl es um Bürgerrechte und obwohl es um Kinder geht. Das Interesse ist nur punktuell bei Katastrophen gegeben“, stellt Sozialwissenschaftler Peter Pantucek fest.

Es sollte eine Reportage ohne aktuellen Anlassfall werden - eine Reflexion in Ruhe mit Vertretern der Jugendwohlfahrt, Betreuern und Betroffenen. Die Vertreter des Jugendamts waren freudig überrascht, dass sich die Medien auch ohne Tragödie, ohne Skandal für ihre Arbeit interessieren. Sie schilderten sehr nachvollziehbar die Schwierigkeit, vor der Sozialarbeiter in ihrer Arbeit in Multiproblemfamilien stehen, insbesondere, wenn es um die Entscheidung geht: Geht es noch, das Kind bei seinen Eltern zu lassen, oder soll man es den Eltern abnehmen und bei einer Pflegefamilie oder in einer Wohngemeinschaft unterbringen?

Sicher ist es ein unglaublich schwieriges Unterfangen, die Gefahr für das Kind richtig einzuschätzen. Und dass es nicht hundertprozentige Sicherheit, weil nicht hundertprozentige Überwachung geben kann, wie das Jugendamt in präventiver Abwehr aller zukünftigen Vorwürfe feststellt, ist ebenso klar. Doch es gilt doch, das Risiko zu minimieren, und dafür gilt es, die gelebte Praxis in Frage zu stellen.

Geringe Selbstkritik der Jugendwohlfahrt

Auffallend im Interview war das geringe Maß an Selbstreflexion und Selbstkritik an der grundlegenden Herangehensweise der sozialen Arbeit für die Familien. Dass das Jugendamt diese Familien, denen man eigentlich zu Hilfe kommen möchte, in den allermeisten Fällen als Gegner betrachtet, wird offenbar als naturgegeben angesehen bzw. mit der mangelnden Fähigkeit der Menschen erklärt, Hilfe annehmen zu können.

Das mag zum Teil stimmen, zum anderen liegt es an der generell sehr späten Kontaktaufnahme des Jugendamts mit jungen Familien. Der Sozialarbeiter tritt dann als Kontrollorgan auf, das einen Verdacht gegen die Eltern überprüft. Pantucek weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Schwelle, ab wann sich das Jugendamt zustsändig fühle, gegenüber früher höher geworden sei.

Dabei werden Erziehungsunterstützung im Gesetz groß geschrieben. Auf die Frage, ob die Elternbildung (Seminare und Vorträge für Eltern in Erziehungsfragen) denn auch angenommen wird, antwortet Brigitte Zinner, die Leiterin der "Sozialen Arbeit mit Familien" der MA 11 nur zögernd und schwach: "Im Großen und Ganzen schon. Das Problem ist aber, dass die Angebote diejenigen, die große Probleme haben und es brauchen würden, nicht erreicht.“

Vertrauen aufbauen, statt Brände löschen

"Information bleibt nicht haften, wenn sie nicht emotional gestützt ist“, meint die 89-jährige pensionierte Psychologin und Sozialarbeiterin Marianne Estl, die 45 Jahre lang für das Jugendamt in Wien tätig war. Auf der Suche nach Verbesserungen müsse man das Rad nicht neu erfinden, sagt sie mit Verweis auf die soziale Arbeit in den 1970er bis 1990er Jahren.

Vielleicht müsste man das eine oder andere etwas modifizieren oder neu benennen, aber einige Grundprinzipien sind es wert, wieder ausgegraben zu werden, zum Beispiel:

  • Frühzeitige Kontaktaufnahme im Sinne der Vertrauensbildung
  • Umfassend ausgebildete Kontakt- bzw. Begleitpersonen
  • Schwerpunkt auf emotionaler Vermittlung statt bloßer Information
  • Mehr Feldarbeit und Hausbesuche
Sozialwissenschaftler Peter Pantucek - selbst jahrelang in der sozialen Arbeit mit Familien tätig - kritisiert vor allem die mangelnde Kultur im Umgang mit Fehlern, was zum Teil an Strukturen wie der Eingliederung der Jugendämter in die Bezirkshauptmannschaften liege.

Hör-Tipp
Journal-Panorama, Dienstag, 20. Februar 2007, 18:25 Uhr

Links
Donau - Quality in Conclusion - EQUAL-Entwicklungspartnerschaft
BMSG - Bundesministerium für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz
Amt für Jugend und Familie der Stadt Wien
Youth in Care Austria
Peter Pantucek