Beobachtungen in der Megacity

Bombay. Maximum City

Als Suketu Mehta das Angebot erhält, ein Buch über Bombay zu schreiben, ergreift er die Gelegenheit, gemeinsam mit seiner Familie in die Stadt seiner Kindheit zu ziehen. Als das Buch im Jahr 2004 erscheint, sind die Kritiker sofort begeistert.

Suketu Mehta wird 1963 als Sohn eines Diamantenhändlers in Kalkutta geboren. Seine Kindheit verbringt er in Bombay. Als er 14 ist, zieht er mit seinen Eltern nach New York. 1998, nach 21 Jahren in den USA, entschließt sich der Journalist und Drehbuchautor, für einige Jahre in die Stadt seiner Kindheit zurückzukehren, um ein Buch über Bombay zu schreiben.

Mehta gibt Einblick in die Lebensschicksale von Straßenkindern, Transvestiten und Diamantenhändlern. Am stärksten zieht es ihn in die Unterwelt. Im Laufe seiner Recherchen gewinnt er das Vertrauen einiger Auftragskiller. In Hotelzimmern erzählen sie ihm ihre Lebensgeschichten.

Das Land des Nein

Bevor Mehta mit seiner Arbeit beginnen kann, muss er sich mit den Widrigkeiten des indischen Alltags herumschlagen: "Im ersten Jahr war ich mir sicher, dass dies nicht mein Zuhause ist, es war fürchterlich", erzählt Mehta. "Wir wurden betrogen und wie Ausländer behandelt, unsere Wohnung war schrecklich, unsere Kinder wurden sehr krank, alles war mit großen Schwierigkeiten verbunden. Ich nenne Indien in meinem Buch 'das Land des Nein'.

"Kann ich einen Gasanschluss kriegen?"
"Nein."
"Kann ich ein Telefon bekommen?"
"Nein."
"Kann ich mein Kind zur Schule schicken?"
"Ich fürchte, das ist nicht möglich."
"Sind meine Pakete aus Amerika angekommen?"
"Das weiß ich nicht."
"Können Sie es herausfinden?"
"Nein."

Begegnungen auf Partys

Ohne die richtigen Leute zu kennen, enden die meisten Unternehmungen in Bombay in einer Sackgasse. Man bekommt weder eine vernünftige Wohnung noch einen Platz in der Schule für seine Kinder. Und vor allem nicht die richtigen Gesprächspartner. Suketu Mehta geht also auf Partys, um Kontakte zu knüpfen. Und er macht dabei seine Beobachtungen:

Auf diesen Partys tummeln sich massenhaft so genannte "Bombabes": gut aussehende Frauen in kurzen Röcken. Jetzt entdecke ich etwas Neues in Indien: Singles in den Dreißigern, auch Vierziegern, die absichtlich unverheiratet geblieben sind. Einer dieser Lebemänner erklärt, warum er nicht geheiratet hat: "Wenn man jeden Tag Milch kriegen kann, warum dann eine Kuh anschaffen?" Die Kuh ist ein Bombabe in den Dreißigern kurz vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums. Sie ist erfolgreich in ihrem Beruf, aber auch einsam und wird dadurch zu Freiwild für die Verheirateten, die Lesben und die Fetten - für jeden, der sie in den endlosen Nächten in die Arme nimmt. Aber von dieser Verletzlichkeit wird sie sich bei ihrem öffentlichen Auftreten nichts anmerken lassen. Die Welt wird nie davon erfahren. Die verheirateten Frauen werden sie beneiden.

Einheimischer und Fremder zugleich

Mehta vermischt verschiedene Genres: Reportagen, manche seiner Beobachtungen sind wie ein Essay, Es gibt ein Kapitel über die architektonische Entwicklung in Bombay, und die Auswirkungen der schlechten Stadtplanung. "Niemand kann das endgültige Buch über Bombay schreiben", meint er, "daher beschloss ich, ein sehr persönliches Buch über mein Bombay zu schreiben."

Niemand außer Suketu Mehta hätte dieses Buch schreiben können, denn er ist Einheimischer und Fremder zugleich. Seine Neugier, die entlegensten Winkel der Stadt und der Seelen ihrer Bewohner zu durchstreifen ist noch nicht im alltäglichen Überlebenskampf und der Schwüle des Monsuns verdampft. Suketu Mehta kann mit den Killern im Bombayer Hindi sprechen, mit den Zuwanderern auf Gujarati und auf Englisch mit Diamantenhändlern oder den Bollywood-Regisseuren in ihren Luxusvillen am Meer.

Seine Gesprächspartner gewähren ihm tiefe Einblicke in ihr Leben, weil sie wissen, dass er nicht lange genug bleiben wird, um ihr Vertrauen irgendwann zu missbrauchen. Doch er bleibt lange genug für intensive Begegnungen.

Suketu Mehta ermöglicht seinen Lesern eine rauschhafte, 800 Seiten lange Begegnung mit einem Bombay, das man ohne dieses Buch nie betreten hätte. Zu Recht nennt Carolin Emcke das Buch in ihrem lesenswerten Nachwort zur deutschen Ausgabe "unverzichtbar".

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Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 11. Februar 2007, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Suketu Mehta, "Bombay. Maximum City", aus dem Englischen übertragen von Anne Emmert, Heike Schlatterer und Hans Freundl, Suhrkamp Verlag, 2006, ISBN 978-3518418420