Wie man einen Choreografen überrascht

Strawinskys Hanswurst

Er ist der Hanswurst aus Neapel: Pulcinella. Igor Strawinsky schrieb für Sergei Diaghilev ein Ballett über diese Figur des süditalienischen Volkstheaters. Der Komponist griff auf barocke Vorlagen zurück und ging über eine normale Bearbeitung hinaus.

Strawinsky probt Strawinsky: Pulcinella

"Der Pulcinella war ein großer betrunkener Tölpel, und jede seiner Bewegungen, wahrscheinlich auch jedes Wort, wenn ich es verstanden hätte, war obszön." So erinnert sich Igor Strawinsky an seine erste Begegnung mit der Figur, die für ihn als Komponist den Weg zum Neoklassizismus markierte. In einem überfüllten, von Knoblauch dampfenden kleinen Raum fand sie statt, im Jahre 1917 in Neapel, auf einer Italien-Reise, die Strawinsky mit der Balletttruppe um Sergei Diaghilev unternommen hatte.

Diaghilev war gerade auf der Suche nach einem neuen Stück und stöberte Noten des Neapolitaners Giovanni Pergolesi auf, die im Konservatorium von Neapel aufbewahrt waren. Später stellte sich heraus, dass nicht alle der kleinen Werke von Pergolesi stammten, sondern sich darunter ebenfalls Kompositionen von Domenico Gallo, Fortunato Chelleri oder Carlo Monza befanden. Aber das Liedchen von der Hirtin, die singend durchs kühle Waldeslaub geht, während ein junges Lamm auf frischem Gras weidet, das ist Original Pergolesi und findet sich als Nummer zwei in der einaktigen Ballettversion von Pulcinella. Absichtlich verkürzt Strawinsky metrische Perioden und verzahnt formale Glieder so miteinander, dass sie nicht voneinander zu trennen sind.

Skepsis bei Strawinsky

Strawinsky war anfänglich gar nicht Feuer und Flamme für das Ballettprojekt, das Sergei Diaghilev da im Kopf herumgeisterte. So ungefähr muss man sich den Dialog zwischen den beiden vorstellen, als sie an einem Frühlingsnachmittag auf der Place de la Concorde miteinander spazieren gingen:

Diaghilev: "Jetzt protestiere nicht gleich gegen das, was ich zu sagen habe. Ich weiß, dass du sehr von deinen alpenländischen Kollegen eingenommen bist, aber ich habe eine Idee, die dich mehr unterhalten wird als alles, was die dir bieten können. Ich möchte nämlich, dass du dir eine wirklich reizvolle Musik des 18. Jahrhunderts ansiehst, um sie für ein Ballett zu orchestrieren." Und er erwähnt Pergolesi.

"Du spinnst", sagt Strawinsky, "das reizt mich überhaupt nicht". Trotzdem verspricht er, einen Blick darauf zu werfen, tut’s und verliebt sich. Und richtet das Ballett so ein, dass sowohl die musikalische Klarheit der Originalvorlagen erhalten blieb, als auch genug Raum für unverkennbar dem 20. Jahrhundert verpflichtete Kompositionstechniken geschaffen wurde.

Satire auf Pergolesi

Was hat Strawinsky mit den barocken Vorlagen eines Pergolesi oder Gallo gemacht? Weit mehr als eine normale Bearbeitung. Er eignet sich ohne Berührungsängste die Originalmusik an, ja komponiert, wie er selber schreibt, direkt in die Notenmanuskripte hinein, die Diaghilev in diversen Bibliotheken hatte abschreiben lassen, grad so, als würde er eine seiner eigenen alten Arbeiten durchkorrigieren.

Keine Ehrfurcht, kein Respekt vor dem Original? Nein, Strawinsky will anderes. Er will Pergolesi oder das, was er für Pergolesi hält, nicht verfälschen, sondern will ihn in seinem eigenen Akzent wiedergeben, will, dass das Resultat zu einer Satire wird. Damit hatte Diaghilev übrigens nicht gerechnet, dass sich der Arbeitsprozess so bei Strawinsky entwickeln würde. Der wollte nichts anderes als eine stilgemäße anständige Orchestrierung.

Das beleidigte 18. Jahrhundert

Das Ergebnis soll ihn so schockiert haben, dass er, so Strawinsky, "für längere Zeit mit einem Gesicht herumlief, als ob er das beleidigte 18. Jahrhundert selbst wäre. Das Bemerkenswerte an Pulcinella ist jedoch nicht, wie viel, sondern wie wenig hinzugefügt und geändert wurde".

"Pulcinella war meine Entdeckung der Vergangenheit, eine Epiphanie, durch die mein späteres Werk möglich wurde. Natürlich war es ein Blick zurück - die erste von vielen Liebesaffären in dieser Richtung -, aber es war auch ein Blick in den Spiegel", so Strawinsky über den Schwanengesang seiner Schweizer Jahre.

Links
Wikipedia - Pulcinella
Wikipedia - Igor Strawinsky

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