Noch einmal unterwegs mit Ryszard Kapuscinski
Notizen eines Weltbürgers
Als einer der ersten hat der kürzlich verstorbene Ryszard Kapuscinski das Genre der Reportage mit essayistischen Elementen angereichert - und damit eine ganze Schule der Reiseliteratur mitbegründet. Nun ist sein letztes Buch auf Deutsch erschienen.
8. April 2017, 21:58
Der Reporter Ryszard Kapuscinski war vieles auf einmal: Soziologe, Ethnologe, Philosoph, vor allem auch ein mitreißender Erzähler, der den Alltag der kleinen Leute in Lagos ebenso packend zu beschreiben vermochte wie die Ereignisse in Teheran und anderen Städten. In der Ö1-Sendung "Diagonal" hatte Kapuscinski seinen Stil einmal als "literarische Reportage" bezeichnet.
"Notizen eines Weltbürgers" fasst zwei Bücher zusammen, "Lapidarium 4 und 5"; im polnischen Original liegen die Bände seit 2000 und 2002 vor. "Notizen eines Weltbürgers" umfasst Tagebuchaufzeichnungen, Reisenotizen, Betrachtungen zur Literatur des Ethnologen Marcel Mauss, dem Soziologen Anthony Giddens sowie Aphorismen und kurze Prosaelemente. Einmal mehr zeigt sich Kapuscinski als penibler Beobachter, als Journalist des Konkreten. Sein Stil zeichnet sich durch eine verblüffende Liebe zum Detail aus.
Geschichte aus allernächster Nähe
In den 1950er Jahren begann Ryszard Kapuscinski als Korrespondent der polnischen Nachrichtenagentur PAP ausgedehnte Reisen nach Indien, Pakistan, Afghanistan, Japan und China zu unternehmen. Es folgten Exkursionen nach Südamerika und Afrika, wo Kapuscinski - mit magerem Spesenkonto ausgestattet - den Prozess der Entkolonialisierung aus allernächster Nähe miterlebte. "Erleben um zu verstehen", das war sein Motto. Dafür nahm Kapuscinski jedes Risiko in Kauf.
Kritische Auseinandersetzung mit der Globalisierung
In "Notizen eines Weltbürgers" gibt es zwei Themenschwerpunkte. Zum einen setzt sich Kapuscinski sozialkritisch mit der Globalisierung auseinander. Diese, so meint er, würde ausschließlich zu Gunsten des Nordens geschehen, während die Armen immer ärmer würden. In industrialisierten Ländern brauchen die Menschen 25 bis 30 Mal mehr Rohstoffe als in armen Ländern. Da diese aber begrenzt sind, liegt es nicht im Interesse der westlichen Welt, eine Umverteilung zu erzielen.
Zum anderen betrachtet Kapuscinski die Entwicklung der modernen Massenmedien. Sehr kritisch steht er dieser gegenüber. Dem Journalisten geht es ums Konkrete. Er diagnostiziert eine zunehmende Verflachung im medialen Diskurs. Immer schneller, immer kürzer, immer atemloser ist das Motto in Fernsehen, Funk und Presse. Details, Differenzierungen und Kontexte werden da oft ausgeblendet. Zum Beispiel Berichte über die Dritte Welt. Finden sie überhaupt Platz in westlichen Nachrichtensendungen, dann im Zusammenhang mit Hunger, Terror, Epidemien und Naturkatastrophen. Die Folge ist ein diffamierendes, einseitiges Bild des Anderen.
Infotainment statt Journalismus
Journalismus verkomme immer mehr zu einem Unterhaltungsgewerbe, kritisiert Kapuscinski. Die Medien haben eine Dramaturgie ohne Finale, meint er. Das, was heute gesagt wird, von dem berichtet wird, habe morgen schon keine Bedeutung mehr, es verschwinde von der Bildfläche. Diese Ereignisse ohne Zukunft läge ganz im Trend der Berichterstattung. Der Erfolg von Medien werde immer weniger nach den Kriterien von Wahrheit und Lüge gemessen, und immer mehr nach den Gesetzen des Marktes.
Ryszard Kapuscinski selbst wollte nie Teil des Medienbetriebes sein. Er legte Wert auf Freiheit, die er sich auch als Journalist im kommunistischen Polen bis zu einem gewissen Grad zu bewahren verstand. "Notizen eines Weltbürgers" ist zu einer Art Vermächtnis geworden. Der Band vereint medien- und gesellschaftskritische Anmerkungen, persönliche Notizen und sprachlich dichte Reiseerzählungen. Durch die lebendige, rhythmische Sprache schafft es Ryszard Kapuscinski, sein Publikum gekonnt mit auf Reisen zu nehmen.
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Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Ryszard Kapuscinski, "Notizen eines Weltbürgers", aus dem Polnischen übersetzt von Martin Pollack, Eichborn Verlag, 2007, ISBN 978-3821857565