Vom nationalen Selbstverständnis
Grenzverschiebungen um Belarus
"Die Weißrussen waren immer Trottel ohne eigene Stimme", sagte der Vater von Jan Maksymiuk, als klar wurde, dass die Leute seines Dorfes, Angehörige der weißrussischen Minderheit in Polen, bei der Wahl 1991 ihre Stimme nicht abgeben würden.
8. April 2017, 21:58
Minderheiten sind ein Problem, und die Rechte von Minderheiten zu wahren sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Was aber, wenn die Minderheit zunehmend kleiner wird, weil sie meint, ohne diesen "Nationalitätenquatsch" besser durchs Leben zu kommen?
In seinem Text "Aus den näheren Schichten der Vergessenheit" erzählt der weißrussische Journalist Jan Maksymiuk von seiner Familie und ihrer wechselnden Staatszugehörigkeit. Sein Großvater gehörte durch die politischen Gegebenheiten fünf verschiedenen Staaten an, ohne die nähere Umgebung seines Dorfes Lachy je verlassen zu haben: Er war Angehöriger des Zarenreiches, der Zweiten Polnischen Republik, der Sowjetunion, des Dritten Reiches und der Polnischen Volksrepublik. Und das nur, weil seine Heimat Podlachien ein hervorragender Puffer zwischen Russland und Deutschland war.
Bürger zweiter Klasse
Zar Alexander I. ließ seinerzeit die Gegend räumen, als Napoleon Bonaparte mit seinem riesigen Heer im Anmarsch war - mit durchschlagendem Erfolg. Zar Nikolaus II. wandte 100 Jahre später dasselbe Prinzip an. Ein großer Teil der Bewohner Podlachiens zog, allen voran ihre Geistlichkeit, Richtung Reichszentrum. Zurück blieben die Ungewollten: die Juden und die Katholiken. Und jene, die zu spät aufgebrochen waren und von den Soldaten Kaiser Wilhelms zur Rückkehr gezwungen wurden. Die dann in dem Land, das die Soldaten des Zaren verwüstet und abgefackelt hatten, irgendwie überlebten. Und den Wechsel der Staatszugehörigkeit als gegeben und als lästig hinnahmen, denn man hatte nun im Umgang mit den Behörden eine andere Schrift und eine andere Sprache zu verwenden.
Die angestammten Bewohner Podlachiens waren gegenüber den neuen Herren in der Minderheit, denn viele von denen, die "ins Reich" gezogen waren, sind nicht mehr zurückgekommen. Die polnische katholische Mehrheit legte keinen Wert darauf, die Rechte der anderen zu wahren, die nun plötzlich zu Bürgern zweiter Klasse geworden waren. Wohl gab es Versuche seitens der Minderheit, Eigenständigkeit zu wahren, zum Beispiel durch die Errichtung weißrussischer Schulen. Die jedoch wurden 1934 geschlossen, als Staatschef Pilsudski den 1919 unterzeichneten Minderheitenschutzvertrag kündigte. Die neue Politik hieß Polonisierung und hatte schon 1920 begonnen, als man polnischen Armee-Angehörigen als Dank für ihre Verdienste im Krieg gegen Russland Land schenkte, bestes Land.
Religion und Sprache
Für die Alteingesessenen war das Unterscheidungsmerkmal nicht die "Nationalität", sondern die Religion und die damit verbundene Sprache. Verständlich, dass ihre Sympathien Richtung Russland gewandt waren, und ebenso verständlich, dass diese Sympathie sich sehr schnell ins Gegenteil verkehrte, als "missionierende" Kommunisten zwischen 1939 und 1941 die Kollektivierung durchsetzen wollten und vor Terrormaßnahmen nicht zurückschreckten.
Einen "Sinn für Minderheitenrechte" kann man weder dem nachfolgenden Dritten Reich noch der darauf folgenden Volksrepublik Polen zuerkennen. Letztere versuchte alles, um die verbliebenen Weißrussen zur Emigration zu überreden. Als die Macht des Wortes versagte, schlug nach 1946 die Stunde der "Kommandos für Sonderaktionen" unter der Führung von Romuald Rajsa, die in gezielten Terroraktionen die "freiwillige Emigration" ankurbeln wollten: Dörfer wurden niedergebrannt, Menschen ermordet - und alles ohne Ergebnis, denn die Sowjetunion schien den Weißrussen nach den schon gemachten Erfahrungen keine erstrebenswerte neue Heimat zu sein.
Schleichende Integration
Die Polonisierung kam später und leise: Die weißrussische Nachkriegsgeneration wollte dem Elend in den Dörfern entkommen, ging in die Städte und erlangte bescheidenen Wohlstand, allerdings auf Kosten der nationalen Eigenständigkeit. Erst in den 1980er Jahren besann man sich wieder auf die weißrussischen Wurzeln: 1981 gründete Jan Maksymiuk gemeinsam mit Gleichgesinnten die Weißrussische Studentenvereinigung, die erste weißrussische Organisation in der Volksrepublik Polen, die aus dem Bedürfnis der Betroffenen selber entstand und nicht, wie die Weißrussische Sozial-Kulturelle Gesellschaft, vom Staat gegründet wurde. Doch die Wiederbelebung des Weißrussentums stieß und stößt auf große Schwierigkeiten und Widerstand.
Als Jan Maksymiuk 1991 in den Dörfern Unterstützungserklärungen für die Kandidatur der weißrussischen Liste sammelte, meinte eine Gleichaltrige: "Was ihr da macht, ist völlig sinnlos. Ich bringe meinem Sohn nicht bei, unsere Sprache zu reden, denn ich will ihm ja nicht das Leben in Polen vermiesen. Warum soll er sich den Kopf darüber zerbrechen, dass er anders ist als alle Übrigen?" Das Wahlergebnis brachte genau 4.500 Stimmen für die weißrussischen Kandidaten. Denn "die Unsrigen" stimmten lieber für die Ex-Kommunisten, falls sie überhaupt wählen gingen. Was den Vater von Jan Maksymiuk zu der Aussage veranlasste: "Die Weißrussen waren immer Trottel ohne eigene Stimme".
Service
Martin Pollack (Hg.), "Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland", S. Fischer Verlag
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