Joan Didions Trauerjahr

Das Jahr magischen Denkens

Joan Didions jüngstes Buch passt in keine Schublade. Es ist kein Erinnerungsband und kein Ratgeber über den Umgang mit Trauer, sondern eine mutige Beschreibung dessen, was ihr im ersten Jahr nach dem Tod ihres Mannes durch den Kopf gezogen ist.

Eigentlich war alles wie immer, einer dieser ganz gewöhnlichen Abende. Feuer im Kamin, Essen auf dem Herd, ein Scotch am Tisch. Wie so oft, seit fast vierzig Jahren. Und dieses Stück normalen Alltags können Joan und John an diesem Tag besonders gebrauchen: Ihre Tochter Quintana liegt auf der Intensivstation eines New Yorker Krankenhauses und kämpft um ihr Leben. Die Eltern sind täglich bei ihr, auch an jenem 30. Dezember 2003. Nun sitzt John vor dem offenen Kamin und trinkt seinen zweiten Whisky. Joan, die den Salat mischt, hört ihn reden - über den Scotch und über ein Buch vom Ersten Weltkrieg, das er gerade liest.

Plötzlich bricht er mitten im Satz ab. Als sie zu ihm hinsieht, ist er zusammengesackt. Er solle jetzt nicht scherzen, meint sie, doch John reagiert nicht. Er fällt vom Stuhl. Kurz darauf sind die Notärzte da. Und wenig später, im Spital, ist klar, dass John Gregory Dunne tot ist. Plötzlicher Herzinfarkt ist die medizinische Diagnose. Sie kann Johns Tod nicht begreiflicher machen - zumindest nicht für seine Frau, die renommierte amerikanische Autorin und Journalistin Joan Didion.

"Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf", schreibt Joan Didion wieder und wieder. Gleichzeitig spürt sie, dass dieses frühere Leben doch noch weitergeht. John ist nicht tot, John wird wiederkehren. Sie darf seine Schuhe nicht weggeben, denn er wird sie brauchen, wenn er zurückkommt. Und auch die Bücher, die er zuletzt gelesen hat, müssen dort bleiben, wo sie liegen. John soll alles so vorfinden, wie er es verlassen hatte. Und schon gar nicht kann sie seine Organe als Spende freigeben, denn was macht ein Mann ohne Nieren, Herz und Leber?

Joan Didion ist nicht verrückt, das weiß sie. Gleichzeitig bemerkt sie aber, wie sie in sonderliche Gedanken verfällt. Aus diesem Zwiespalt entsteht ein vielschichtiges, mitunter rätselhaftes Bild des Trauerjahrs. Einerseits ist da eine Frau, die den Verstand nicht ausschaltet und sich schon gar nicht im Selbstmitleid suhlen will. Gleichzeitig verfängt sie sich in einem Labyrinth von "wäre" und "hätte" und "wenn" und "dann". Der Konjunktiv wird zu ihrem Begleiter. Hat sich Johns Tod nicht schon Jahre vorher angekündigt, hat er ihn nicht längst vorausgeahnt? Wenn sie seine Andeutungen damals schon verstanden hätte. Dann hätte sie das vielleicht noch verhindern können. Allmachtsfantasien bauen sich auf und fallen immer wieder zusammen.

Ambivalente Gefühle

Joan Didion hat ein mutiges Buch geschrieben. Es lässt Ratlosigkeit und Unsicherheit zu und scheut sich nicht, auch jene geheimnisvoll ambivalenten Gefühle auszusprechen, für die sich viele Trauernde schämen und die sie deshalb verschweigen. Von daher sind diese Aufzeichnungen berührender und ehrlicher, als so manche andere Abhandlung über Sterben und Weiterleben.

Auch in diesem ihrem wohl persönlichsten und existenziellsten Buch ist mit Joan Didion eine Schriftstellerin am Werk. Sie weiß, wie man sich einem Thema nähert. Es gibt Rückgriffe auf die Biografie ihrer Ehe, es gibt Anspielungen und Hinweise auf die Literatur, auf die eigene und die fremde, auf wissenschaftliche Werke und medizinisch-psychologische Untersuchungen des Phänomens Trauer. Und so entsteht eine sehr assoziativ wirkende Schreibweise, die doch einer inneren und auch äußeren Logik gehorcht.

Los lassen können

Auch der Umgang mit dem Privaten verblüfft: Didion hat viel Takt und verbietet sich, ihre Ehe zu verklären. Die Vergangenheit, so spürt sie, taugt nicht als sentimentalischer Fluchtpunkt. Schon gar nicht jetzt, da sie ihre Kräfte neu sammeln muss. In jenen Wochen und Monaten, da die Autorin um ihren Mann trauert, erholt sich ihre Tochter und wird aus dem Spital entlassen. Wenig später erleidet Quintana einen schweren Rückfall. Was kann Joan tun, um sie nicht auch noch an den Tod zu verlieren? Das magische Denken bekommt weitere Nahrung.

Joan Didion hat ein beklemmendes Buch geschrieben. Es schließt mit dem Ende des ersten Trauerjahrs. "Heute vor einem Jahr, als John noch lebte...", das hat sie sich in diesen zwölf Monaten wie ein Mantra vorgesagt. Doch nun, am 31.Dezember 2004, funktioniert jener Satz nicht mehr. Ein Jahr lang hat sie versucht, ihren Mann am Leben zu halten, um ihn nicht loslassen zu müssen. Jetzt kann sie ihn vielleicht doch ziehen lassen.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 18:15 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Joan Didion, "Das Jahr magischen Denkens", aus dem Amerikanischen übersetzt von Antje Rávic Strubel, Claassen Verlag, ISBN 978-3546004053