Die schönsten Tiergeschichten

Brehms Tierleben

David Attenborough, Bernhard Grzimek oder hier zu Lande Helmut Pechlaner, sie alle haben ein leuchtendes Vorbild: Alfred Edmund Brehm. In diesem fast 1.000-seitigen Prachtband kann man nun den Schriftsteller Brehm und sein "Tierleben" wieder entdecken.

Der abenteuerlustige Thüringer Tierforscher Alfred Edmund Brehm unternahm im 19. Jahrhundert zahlreiche Expeditionen in exotische Länder wie Abessinien, Lappland, Sibirien oder den Sudan und beobachtete dort die seltsamsten Geschöpfe. Was seine Beschreibungen so einzigartig machte, war seine farbenfrohe und lebendige Anteilnahme. Er verlieh Löwe, Lamm und Laubfrosch Charakter und schilderte sie mit Sympathie oder Abneigung, niemals jedoch nur kalt wissenschaftlich.

Im fast 1.000-seitigen Prachtband "Die schönsten Tiergeschichten aus Brehms Tierleben", ausgesucht von Autor und TV-Moderator Roger Willemsen, kann man nun vor allem den Schriftsteller Brehm wieder entdecken.

Enthusiastische Beschreibungen

Brehms Blick auf die Tierwelt ist die eines Enthusiasten. Auf seinen ausgedehnten Expeditionsreisen hat er fast alle beschriebenen Wesen in ihrem natürlichen Lebensraum beobachtet. Viele davon zum ersten Mal nicht eingesperrt oder ausgestopft. Wenn sein Wissen nicht ausreicht oder er sich zugegebenermaßen zu wenig mit dem Tier beschäftigt hat, zitiert er aus verlässlichen Quellen. Diese berichten dann ähnlich fabulierfreudig und von geradezu kindlicher Neugierde getrieben etwa darüber, dass die Stacheln des Stachelschweins weder bei der Begattung noch für das "Sauggeschäft" der Jungen ein Hindernis darstellen. Da kann es auch durchaus passieren, dass Brehm die antike Darstellung einer äußerst trickreichen, aber frei erfundenen Selbstverteidigung, völlig kommentarlos gelten lässt.

Die Stachelschweine sehen erschrecklich aus und sind die allergefährlichsten Thiere. Werden sie verfolgt, so fliehen sie mit Windesschnelle, nicht aber, ohne zu kämpfen; denn sie schießen ihre todbringenden Stacheln gerade hinter sich gegen den Feind. Der Jäger darf daher keinen Hund gegen sie loslassen, sondern muß sie mit List fangen.

Revolutionär der Naturwissenschaft

Das dumpfe Treiben des Maulwurfs im finsteren Erdreich, das melancholische Brüten des Menschenaffen im Baumwipfel oder das zärtliche Liebesspiel der Tauben am Fensterbrett - Alfred Brehms Trumpf-Ass im Kampf um die Herzen seiner Leser war stets die bedingungslose Vermenschlichung seiner Betrachtungsobjekte.

Er revolutionierte den Blick der Naturwissenschaft, weil er stets mehr wollte als gefühlloses Erkennen und Sezieren. Er trachtete danach, lieben und mitempfinden zu dürfen und schlug so die Brücke zu den Laien, die keineswegs nur an Zahlen, Daten und Fakten interessiert waren, sondern vor allem an spannenden Geschichten. So sieht es auch Roger Willemsen in seinem Vorwort:

Das ist es, was an Brehms Werk nicht altern konnte, mag es auch in einzelnen Resultaten überholt scheinen. Wie er die Natur erfahrbar macht, das hat hohen literarischen Eigenwert, und der poetische Reiz, den diese Natur im Text besitzt, hat große Autoren und ein großes Publikum gleichermaßen fasziniert.

Hugo von Hoffmannsthal zählte "Brehms Tierleben" zu den Meisterwerken deutscher Wissenschaftsliteratur. Willemsens Auswahl beruht auf Originaltexten der legendären zweiten Auflage von 1882 bis 1889. Mittlerweile gibt es "Brehms Tierleben" in über 200 Auflagen, übersetzt in alle Weltsprachen. Seit 1949 wird sein Werk unter dem Titel "Die Neue Brehmbücherei" mit aktualisierten Monografien als naturwissenschaftliches Nachschlagewerk fortgeführt.

Affe vs. Mensch

Als 1859 Charles Darwins Hauptwerk "Ursprung der Arten" erscheint, ist Brehm gerade 30 Jahre alt. Er wird schnell ein glühender Verehrer der Evolutionstheorie und dafür von der katholischen Kirche und der Presse heftigst kritisiert. Doch er wehrt sich gegen das "Pfaffenthum" und schreibt an gegen "Schreibstubengelehrte in ihrer hohen und hohlen Weisheit".

Besonders die Auseinandersetzungen zum Thema Affe zeigen, welche Standpunkte damals aufeinander trafen und wie vage sich die Wissenschaft dem menschenähnlichen Wesen annäherte. Noch im 18. Jahrhundert hatte man in zoologischen Publikationen beispielsweise lesen können, Orang-Utans seien der menschlichen Sprache mächtig, sprächen sie aber niemals in der Öffentlichkeit - aus Angst, man könne sie zur Arbeit zwingen. Brehm brach für unsere nächsten Verwandten eine Lanze:

Es ist unrichtig, die Affen als mißgebildete Geschöpfe zu bezeichnen, wie es gewöhnlich zu geschehen pflegt und auch von mir selbst geschehen ist. Es gibt bildschöne, und es gibt sehr häßliche Affen; mit dem Menschen aber ist dies nicht im geringsten anders. Der Affe in seiner sinnlichen Liebe ist ein Scheusal; er kann aber in seiner sittlichen Liebe manchem Menschen ein Vorbild sein!

Willemsens Blick fürs Skurrile

Natürlich muten viele einfühlsame Beschreibungen aus heutiger Sicht grotesk an, weshalb man nie vergessen darf, wann Brehm seine Studien betrieb. Es galt, die Psychologie im Blick der Tiere zu erforschen, den Nachweis ihres Verstandes und freien Willens zu entdecken und die Thesen vom Menschen als "Krone der Schöpfung" zu widerlegen. Und er fand, was er suchte: Tiere, die die Ehe wichtiger nehmen als der Mensch, solche, die Werkzeuge gebrauchen, Schamgefühl kennen oder Selbstmord begehen. Dass er bei all seinem Enthusiasmus den Menschen scheinbar nicht ausreichend beobachtet hat, zeigen fundamentale Fehlinterpretationen wie diese:

Nur Männer können Thiere erziehen; dies beweisen alle Mopse, dies zeigen die Hunde und Katzen einsamstehender Frauen oder Jungfrauen: sie sind regelmäßig verzogen, nicht erzogen.

91 Tierbeschreibungen hat Roger Willemsen mit Hauptaugenmerk auf das Skurrile aus dem Inbegriff des Tierlexikons ausgewählt: vom Alpenmurmelthier bis zum Zuckereichhorn, von der Geburtshelferkröte bis zum Schnabeligel. Lobende Erwähnung finden muss an dieser Stelle auch die Zeichnungen von Klaus Ensikat, dem "ungekrönten König der deutschen Buchillustratoren". Seine Darstellungen "munterer" Rotkehlchen, "kläglicher" Faultiere, "listiger" Ratten oder "widerspenstiger" Hausschweine unterstreichen auf kongeniale Weise das Brehmsche Anliegen von der Schönheit der Geschichten und der Liebe, die im Blick des Betrachters entsteht.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
"Brehms Tierleben. Die schönsten Tiergeschichten", ausgewählt von Roger Willemsen, S. Fischer Verlag, ISBN 978-3100921017