Europa auf der Suche nach einer einheitlichen Politik

Wie umgehen mit Migranten?

Elite-Unis müssen nicht auf die grüne Wiese gebaut werden. Die EU bündelt die Migrationsforschung im Rahmen eines Exzellenzen-Netzwerks zu einem virtuellen europäischen Forschungscluster. Dieser präsentiert nach zweieinhalb Jahren erste Ergebnisse.

Auch bei Schleppern blühe das Weihnachtsgeschäft, konnte man letzte Woche in der auflagenstärksten österreichischen Tageszeitung lesen. Die Wochen vor Weihnachten bis hin zum Jahreswechsel seien eine kritische Zeit an den heimischen Grenzen. Zwischen 300 und 10.000 Euro, je nach Entfernung des Heimatlandes, würden die "skrupellosen Kriminellen" von den Flüchtlingen kassieren.

Diese Darstellung der Boulevardmedien deckt sich nicht ganz mit den Befunden der Wissenschaft. Statt von Menschenhandel sprechen die Migrationsforscher von irregulärer Migration. Die eingehende Beschäftigung mit der Organisationsform irregulärer Wanderung im Rahmen des europäischen Exzellenzen-Netzwerkes IMISCOE (International Migration Integration and Social Cohesion in Europe) kam zu durchaus unerwarteten Ergebnissen.

"Die Vorstellung, dass eine große, mafiöse Organisation alles strukturiert, wie es in manchen Medien transportiert wird, ist nicht richtig", hält Heinz Fassmann, Leiter des Forschungsclusters A1 "International migration and it’s regulation" fest. Die Betroffenen würden sich wie in einem Reisebüro ihre Route zusammenstellen lassen. Und bezahlt wird erst am Ende der Reise - im Erfolgsfall.

Bündelung und Entwicklung von Forschung

Seit 2002 - seit dem sechsten Rahmenprogramm - finanziert die Europäische Union Netzwerke der Exzellenzen. Im April 2004 nahm das Exzellenzen-Netzwerk IMISCOE, an dem 22 Institutionen aus zwölf europäischen Ländern beteiligt sind, seine Tätigkeit auf - mit dem Ziel der Bündelung bisheriger und der gemeinsamen Entwicklung neuer Forschungsansätze.

Von österreichischer Seite sind zwei Institute der Österreichischen Akademie der Wissenschaft an diesem Netzwerk beteiligt, das "Institut für Europäische Integrationsforschung" sowie das von Heinz Fassmann geleitete "Institut für Stadt- und Regionalforschung".

Der nationale Rahmen erweist sich im Forschungsalltag schnell als zu eng, und so ist Heinz Fassmann begeistert von den Möglichkeiten der europaweiten Zusammenarbeit. Selbst nach zweieinhalb Jahren durchwegs mühsamer EU-Bürokratie sieht er in der Bündelung der Migrationsforschung zu einem, wenn auch nur virtuellen, großen europäischen Institut die Zukunft der Forschung. Nur so könne Europa mit den amerikanischen Think Tanks mithalten.

Neun Forschungscluster

Die inhaltliche Arbeit ist in neun Forschungscluster aufgeteilt. Einer beschäftigt sich etwa mit den Auswirkungen von Migration auf die Herkunftsländer und untersucht die Frage, ob Überweisungen an die Daheimgebliebenen die Modernisierung eines Staates beschleunigen.

Als hochgradig abhängig von den Geldflüssen der Ausgewanderten stellen sich Staaten wie Albanien, Senegal und Ghana heraus. Ein anderer Cluster untersucht das Modell amerikanischer Migrationspolitik in Hinsicht auf die Frage, ob es auf Europa übertragbar wäre. Der von Heinz Fassmann geleitete Cluster A1 widmet sich dem Vergleich statistischer Grundlagen zur Migration in Europa. Da kam heraus, dass die Statistiken der einzelnen Länder nicht vergleichbar sind, weil jedes Land unter Migration etwas anderes versteht, und dass neue Phänomene wie zirkuläre Migration statistisch gar nicht erfasst werden.

Zirkuläre Migration

Unter Zirkularität verstehen die Forscher Abfolgen mehrmonatiger bzw. mehrjähriger Aufenthalte in europäischen Ländern von Menschen, die gar nicht die Absicht haben, für immer alles hinter sich zu lassen. Zirkularität ist Ausdruck des EU-Binnenmarktes, in dem es keine Niederlassungs-Restriktionen für EU-Bürger mehr gibt.

Die oft beschworene europäische Bildungslandschaft und der oft beschworene europäische Wirtschaftsraum sind bereits Realität geworden. Und so zählen auch Studenten, Manager und britische Pensionisten mit Haus auf Mallorca für Heinz Fassmann zu den Migranten.

Migration als Chance

Nachdem es Ziel des Exzellenzen-Netzwerkes zur Migrations- und Integrationsforschung ist, aktuelle Forschungsergebnisse an die Politik heranzutragen, plädiert Heinz Fassmann für Erweiterung und Präzisierung des Migrationsbegriffs. Nur vergleichbare Statistiken können Politikern Grundlagen für Maßnahmen liefern, sonst macht man Politik, ohne genau zu wissen, über welches Phänomen man spricht.

Generell empfiehlt der Wissenschaftler der Politik, eine gewisse Langfristigkeit von Maßnahmen zu beachten. Migration sei kein Sonderfall mehr, sondern zur Normalität in einem liberalisierten Europa geworden. Und so gilt es auch, Planungssicherheit für Migranten zu schaffen. Und zwar aus Eigennutz. Denn wenn Migranten in ihre Wohnung oder die Bildung ihrer Kinder investieren, habe Österreich volkswirtschaftlich gesehen mehr davon, als wenn Ersparnisse in die Herkunftsländer transferiert werden. Migration sei keine Bedrohung, sondern eine Chance: In den USA werde das schon lange so gesehen.

Hör-Tipp
Dimensionen, Montag, 11. Dezember. 2006, 19:05 Uhr

Mehr dazu in Ö1 Programm

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.