Vielfältiger Hinduismus

Yogis, Götter und Computer

Ungefähr ein Sechstel der Menschheit gehört den Hindu-Traditionen an. Hindus leben nicht nur am indischen Subkontinent - also in Indien, Pakistan und Bangladesh und Nepal -, seit rund tausend Jahren gibt es sie auch in Sri Lanka und Bali.

Im 19. Jahrhundert wanderten Inder - Hindus, aber auch indische Muslime - als Plantagenarbeiter auf die Fidschi-Inseln, nach Trinidad und Tobago sowie nach Mauritius aus, andere gingen nach Malaysia und Singapur oder nach Afrika, darunter viele Kaufleute. Mahatma Gandhi etwa arbeitete lange Jahre als Rechtsanwalt in Südafrika.

Heute gehen viele Inder in die Golfstaaten, um Geld zu verdienen. Oder sie wandern in die USA aus. Als Bürger des Commonwealth konnten Inder sich auch leicht in Großbritannien niederlassen und sind heute EU-Bürger. Sie sind Rechtsanwälte, Ärzte, Computerspezialisten oder auch Kaufleute - und sie sind Hindus.

Heilige Schriften

Die Stämme, die ab ungefähr 2.500 vor Christus aus Zentralasien in die Gangesebene einwanderten - in kleinen Gruppen und im Verlauf von vielen Jahrhunderten - nannten sich nicht Hindus. Sie verehrten Götter, die in manchem den griechischen Göttern ähnlich sind. Aus ihrer Religion ist im Verlauf von weiteren Jahrtausenden das entstanden, was man heute Hinduismus nennt. Ihre heiligen Bücher, die Veden, gehören bis heute neben den Upanishaden, dem Ramayana, dem Mahabharata, der Bhagavadgita, den Puranas und Agamas zu den heiligen Texten der Hindutraditionen. Natürlich gibt es neben diesen heiligen Schriften noch eine ganze Reihe anderer heiliger Texte

Vielfältiger Glaube

Das Wort Hinduismus als Sammelbezeichnung geht auf die Irritation der britischen Kolonialherren im 18. und 19. Jahrhundert zurück, die mit einer derartigen Vielfalt an Göttern nichts anfangen konnten. Was genau einen Hindu von den Anhängern anderer Religion unterscheidet, ist gar nicht so leicht festzustellen, denn nicht nur Hindus, sondern auch Buddhisten glauben an Karma und Wiedergeburt und auch an die Befreiung davon.

Dazu kommt, dass es eine Unzahl verschiedener Götter gibt, die von Hindus verehrt werden, dass es aber auch bedeutende Hindu-Traditionen gibt, in denen nicht von einem persönlichen Gott, sondern von einem unpersönlichen Absoluten gesprochen wird. Es gibt aber auch Hindu-Traditionen, die überhaupt keinen Gott verehren. Amártya Sen, Professor für Ökonomie in Oxford und Nobelpreisträger erzählt in seinem Buch: "The argumentative Indian":

Wir feierten zuhause keine religiösen Rituale, aber meine Großeltern hatten eine ziemlich feste religiöse Überzeugung, die einem kontemplativen und eher unzeremoniellen Version von Hindu-Sein entsprach. Doch soweit ich in meine Kindheit zurückdenken kann, zog mich nichts zur Religion, und ich fragte meinen Großvater, ob ich mir deswegen Sorgen machen sollte. Er meinte: Nein, es würde schon mit der Zeit kommen. Doch einige Jahre später sagte ich, dass er sich geirrt habe. Keineswegs, sagte mein Großvater. Du hast dir die Frage nach Religion gestellt und hast dich, wie ich sehe, dem atheistischen Teil des Hindu-Spektrums zugeordnet.

Gottesdienst auf Gegenseitigkeit

Das Verhältnis der Hindus zu ihren Göttern ist anders als das der meisten Christen. Chris Fuller, Professor für Ethnologie an der London School of Economics: "Es gibt nicht nur unendlich viele Göttinnen und Götter, es gibt auch keinen absoluten Unterschied zwischen den Gottheiten und den Menschen, wie das die westlichen Religionen sehen. Ganz im Gegenteil: Diese Beziehung ist flexibel und kontinuierlich. Für einen Hindu ist es völlig sinnvoll, zu sagen, dass ein menschliches Wesen göttlich wird, oder dass sich eine Gottheit in menschlicher Form manifestiert. Wenn Hindus also ihren Gottesdienst feiern, dann geht es nicht nur darum, dass sie der Gottheit näher kommen, sondern gewissermaßen wie die Gottheit werden, weil sie Kraft von der Gottheit bekommen."

Wenn ein Hindu in einen Tempel geht, will er oder sie die Gottheit sehen und von ihr gesehen werden. Das Speiseopfer, das der Priester der Gottheit überbringt, wird dem Geber zurückgegeben, und dann ist es prasad, Speise, die von Gott kommt.

Kein Aufbrechen der Kasten

Die Hindu-Gesellschaft ist traditionell durch die Hierarchie der Kasten bestimmt. Im Rigveda, der ältesten heiligen Schrift der Hindu-Traditionen, wird beschrieben, wie aus dem Opfer des Urmenschen die gesellschaftliche Hierarchie entsteht:

Der Brahmane war sein Mund, die Arme wurden zum Kshatriya, zum Krieger gemacht, seine Schenkel zum Vaishya, zum Bauern, und aus seinen Füßen entstanden die Shudras, die den anderen dienen sollen.

Dieses so genannte Varna-System wird erweitert durch die Jatis. Ursprünglich waren das Berufsgruppen, in die man hineingeboren wurde. Berufe, die mit Blut, Gestank, oder Schmutz zu tun haben, also zum Beispiel Lederarbeiter oder Putzpersonal. Sie stehen in der Hierarchie ganz unten und gelten als rituell unberührbar.

Zwar ist die Unberührbarkeit seit 1950 in Indien gesetzlich verboten, doch in der Praxis legt bis heute die Zugehörigkeit zu einer Kaste fest, wer mit wem essen darf und wer wen heiraten darf. Súbhir Sínha, Professor für Politikwissenschaft an der School of Oriental Studies in London: "Erst kürzlich hat die Regierung des indischen Bundesstaates Bihar jedem Mann, der eine Frau aus einer Kaste heiratet, die niedriger als seine ist, 50.000 Rupien angeboten. Auf der anderen Seite gibt es jedes Jahr zum Beispiel in den Bundesstaaten Rajastan oder Uttar Pradesh Fälle, wo Heiraten zwischen unterschiedlichen Kasten dazu führen, dass die Brautleute umgebracht werden. Wenn ein Ehepartner Dalit, also ein Mitglied der Unberührbaren ist, werden die Dalit-Eltern gezwungen, ihr Kind selbst umzubringen. Das soll die Leute davon abhalten, die Kastengrenzen zu überschreiten."

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 4. Dezember, bis Donnerstag, 7. Dezember 2006, 9:30 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendereihe "Radiokolleg" (mit Ausnahme der "Musikviertelstunde") gesammelt jeweils am Donnerstag nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.