Doris C. Rusch über MMORPG

Komm, spiel mit mir!

Mein Liebster hat mir das Leben gerettet. Nicht nur einmal, denn schnell gerät man hier in lebensbedrohliche Situationen. Aber Keegan (groß, muskelbepackt, das pechschwarze Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden) beschützt mich.

Ein Akt der Romantik wie aus einer anderen Welt. Und tatsächlich: Ort des Geschehens ist das massive multiplayer online role playing game (MMORPG) World of Warcraft (WoW).

Im echten Leben verbringe ich einen kalten Winter an der amerikanischen Ostküste, wo ich am Massachusetts Institute of Technology nach Wissen strebe. Mein Liebster, der in Wirklichkeit genauso wenig Keegan heißt wie ich Carmena, hält derweil in Wien die Stellung.

Schon öfter manövrierte ich uns beide in die unselige Situation einer Fernbeziehung, aber diesmal war alles anders. Konnten wir uns früher zwischen frustrierend kurzen oder zum Verzweifeln teuren Telefonaten entscheiden, stand uns nun ein Kommunikationstool zur Verfügung, das uns nicht nur verbalen Austausch ermöglichte, sondern uns auch erlaubte, gemeinsam etwas zu unternehmen. Dank der Zeitverschiebung schafften Nacht- und Morgenmensch nun auch endlich ihre Wachphasen zu koordinieren, und vier Monate voller Abenteuer machten die physische Trennung erträglich.

In einer Zeit, in der soziale Räume der echten Welt immer mehr verdrängt werden, erfüllen MMORPGs eine äußerst wichtige Funktion. Das soll keine Legitimation für eine problematische Entwicklung sein. Freilich sind WoW oder Everquest kein Ersatz für echte Spielplätze, Stadtversammlungen und andere Formen des institutionalisierten realweltlichen Zusammenkommens. Aber sie befriedigen ein Bedürfnis, das durch das zunehmende Verschwinden dieser Kontaktmöglichkeiten brach liegt. (Und der Zyniker in mir sagt, dass die Verlockungen eines Stammtisches mit der Erkundung endlos wirkender Fantasy Welten ohnedies nicht mithalten können.)

Kinder sollen hinausgehen zum Spielen, ihre Muskeln stählen, soziale Kompetenzen im Umgang mit ihren Peers erwerben und mit geröteten Wangen und Lungen voller Frischluft am Abend nach Hause kommen. Aber keiner sagt, wohin sie gehen sollen. Die Abenteuer der Stadtjugend inkludieren im realweltlichen Raum Monster auf vier Rädern. Lärmintensives Spielen im Innenhof des Gemeindebaus wird auch nicht immer goutiert. Die Auseinandersetzung mit dem Hauswart kann leicht zum nicht zu gewinnenden Boss fight werden.

MMORPGs stellen vor allem anderen Erweiterungen des Lebensraumes dar. Für Jugendliche bedeuten sie ein Stück Autonomie in einer von Erwachsenen reglementierten Welt. Handlungsmächtigkeit steht an oberster Stelle, sowie ein Ausweg aus sozialer Isolation. Es ist immer jemand da, mit dem man eine Gruppe bilden und gemeinsam losziehen kann. Dazu muss man sich aber benehmen. MMORPGs sind sich (weitestgehend) selbst regulierende soziale Systeme, in denen sich hartnäckige Querulanten auf Dauer nicht halten.

Essentiell ist dabei das Rollenspiel-Element, die Möglichkeit, unter dem Schutzmantel der virtuellen Persönlichkeit seine Schüchternheit u. ä. abzulegen, Aspekte des Selbst auszuleben, die man sich sonst nicht auszuleben traut. Das reduziert das Leben nicht, es erweitert es. "Get a Life!!" lautet der Imperativ militanter Nicht-Spieler, aber er berücksichtigt selten, dass das Leben ohne MMORPGs ziemlich einsam sein kann, bzw. die Fähigkeiten, die man zum Aufbau sozialer Kontakte braucht, in der virtuellen Welt erlernt werden können.

Keegan hat seine Carmena mittlerweile wieder - in der echten Welt. Doch es ist nicht wieder alles beim Alten. Die gemeinsame Zeit in WoW hat meinen Blick auf meinen Partner verändert. Und damit meine ich nicht nur, dass ich am Flughafen beinahe nach einem ledergewandeten He-Man Ausschau gehalten hätte. Das Rollenspiel hat auch die Rollen in unserer Beziehung herausgefordert und das war erstaunlich erfrischend.

Dr. Doris C. Rusch ist Post Doc Fellow am Institut für Gestaltungs- und Wirkungsforschung der TU Wien, wo sie ein Forschungsprojekt zum Thema "Involvement and Meaning-Making Mechanisms of Dramatic Computer Games" durchführt.

Hör-Tipp
Matrix, Sonntag, 26. November 2006, 22:30 Uhr

Download-Tipp
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Links
Everquest 2
World of Warcraft

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