Einstiger ungarischer EU-Musterschüler im Abseits

Vom "Gulaschkommunismus" zum Kapitalismus

Nach dem Fall des Kommunismus galt Ungarn lange als Musterschüler der Reform. In den letzten Jahren ist das Land aber in die Krise gerutscht: Das Budgetdefizit ist explodiert, die Einführung des Euro in weite Ferne gerückt, das Wachstum fällt zurück.

Peter Rejtö zu Österreichs Firmenpräsenz in Ungarn

Nach dem Fall des Kommunismus galt Ungarn lange als Musterschüler der Reform. Der Übergang vom "Gulaschkommunismus" zum Kapitalismus schien leichter zu sein als in den Nachbarländern. Fast ein Viertel aller ausländischen Direktinvestitionen in Osteuropa flossen nach Ungarn.

In den letzten Jahren ist das Land aber in die Krise gerutscht. Das Budgetdefizit ist explodiert, die Einführung des Euro in weite Ferne gerückt, das Wachstum fällt zurück. Der Protest gegen das Sparpaket führte zu Straßenschlachten. Jetzt hofft Ungarn auf die Wirkung der Reformen und der EU-Förderungen.

Gyurcsany - hau ab!

Der Ruf nach dem Rücktritt des sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany bestimmt seit Mitte September die ungarische Politik. Straßenschlachten zwischen Polizei und Demonstranen mit hunderten Verletzten sind der Ausdruck einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise, in die das Land in den letzten Jahren gerutscht ist. Dabei habe Ungarn zu Beginn der 1990er als der Teil des kommunistischen Blocks gegolten, der die größten Chancen zu haben schien, den Übergang zum Kapitalismus zu meistern, sagt Peter Rejtö, der österreichische Handelsdelegierte in Budapest:

"Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Das Budgetdefizit wird heuer mit 10,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukt einen Negativ-Rekord in der EU erreichen. Beim Wachstum ist Ungarn mit prognostizierten 2,2 Prozent im nächsten Jahr das dramatische Schlusslicht der neuen EU-Mitgliedsländer. Die Regierung unter Premier Gyurcsany hat ein hartes Sparpaket angekündigt, mit dem die Neuverschuldung bis in das Jahr 2009 auf knapp drei Prozent gesenkt werden soll. Der Beitritt zum Euro ist trotzdem in weite Ferne gerückt."

Wer ist schuld?

Schuld an der wirtschaftlichen Misere seien Fehler der letzten beiden Regierungen seit 1998, sagt Andras Inotai, Direktor des Institutes für Weltwirtschaft der Akademie der Wissenschaften. Mitte der 1990er sei der Staatshaushalt mit einem großen Sparpaket in Ordnung gebracht worden. Als der Konservative Viktor Orban 1998 die Regierung übernahm, habe er diese Chance aber nicht genutzt, keine Reformen in Angriff genommen und weiter Schulden gemacht.

Nach der Wahlniederlage der Konservativen im Jahr 2002 habe die darauf folgende sozialistische Regierung diese Fehler fortgesetzt. Statt zu reformieren und zu sparen, habe der damalige Premier Peter Medgyessy auf das so genannte "Programm des Wohlstandes gesetzt": Die Löhne im öffentlichen Dienst wurden um bis zu 50 Prozent erhöht, die Sozialleistungen ausgebaut und massiv in den Ausbau der Infrastruktur investiert, vor allem in den Bau von Autobahnen. Jeder dieser Punkte sei wichtig gewesen, meint Andras Inotai, aber zur Unzeit in Angriff genommen worden.

Neuer Aufschwung durch enormes Sparpaket?

Was den Ungarn jetzt droht, ist ein massives Sparpaket, dessen Umfang für westeuropäische Verhältnisse kaum vorstellbar ist: Der Mehrwertsteuersatz wird von 15 auf 20 Prozent erhöht. Erhöhungen gibt es auch bei sehr vielen anderen Steuern und fast allen Abgaben. Die Subvention des Gaspreises wird beendet. Dazu kommen noch einige andere Maßnahmen.

Der Handel fürchtet einen deutlichen Einbruch bei den Konsumausgaben und rechnet mit schwierigen Zeiten. Die Konsumquote sei in Ungarn zwar viel höher als in Westeuropa, vor allem deshalb weil über 90 Prozent der Ungarn in Eigentumswohnungen oder Häusern wohnen und daher keine Miete zahlen müssen. Mit einem echten Aufschwung rechnet man aber erst wieder 2008 oder 2009, und auch nur dann, wenn das Sparprogramm wirklich greift.

Hoffnung auf Reformeffekte und EU-Förderungen

"Die Regierung setzt neben höheren Einnahmen auf die Effekte der Reformen und vor allem auf Förderungen durch die EU, die nächstes Jahr richtig anlaufen werden", sagt Gordon Bajnai, der Leiter der Agentur für Entwicklungspolitik. Bajnai gilt als einer der einflussreichsten Politiker Ungarns. Er ist Euro-Millionär und wird immer wieder als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten ins Spiel gebracht, sollte Ferenc Gyurcsany vorzeitig zurücktreten.

Bis 2012 würden 22,4 Milliarden Euro EU-Förderungen nach Ungarn fließen - das sei die Chance seiner Generation, den Staat wieder in Ordnung zu bringen, betont Bajnai. Die Förderungen durch die EU und der ungarische Eigenanteil an den EU-Projekten wird etwa vier Prozent des BIP ausmachen. Bei der Förderung will Bajnai nicht auf das Gießkannenprinzip setzen, sondern bestimmte Leitprojekte fördern, daneben werden im Land sechs so genannte Entwicklungspole gebildet, die ihr Umfeld mitziehen sollen.

Auswirkungen auf die Wirtschaft

Geteilter Ansicht ist man, ob das geplante Sparpaket der Wirtschaft schaden oder nützen wird. Der Handel rechnet 2007 mit einem sehr schwierigen Jahr, vor allem deswegen, weil die Kaufkraft der Ungarn sinken wird. Der Ökonom Andras Inotai hält dem entgegen, dass steigende Exporte den sinkenden Inlandskonsum auffangen könnten. Dafür seien vor allem die Fabriken ausländischer Konzerne verantwortlich - und diese ausländischen Unternehmen würden an ihren Investitionen festhalten, sagt Inotai:

"Der Knackpunkt für die Entwicklung der Wirtschaft ist, ob es gelingt, die geplanten Reformen zu realisieren und das Staatsbudget auch ausgabenseitig zu sanieren." Hier ist Inotai wieder skeptisch, denn für viele der Reformen - etwa im Gesundheitssystem und der Verwaltung - sei eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament nötig; die sei im aufgeheizten politischen Klima zur Zeit aber nur schwer zu erreichen.

Mehr zur ungarischen Wirtschaftskrise in Ö1 Inforadio

Mehr zu Ungarn in oe1.ORF.at

Hör-Tipp
Saldo, Freitag, 17. November 2006, 9:45 Uhr

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Links
Wikipedia - Ungarn
EU-Kommission - Ungarn als EU-Mitgliedsland
wiiw - Wachstumsaussichten für Ungarn
Institute for World Economics - Ungarisches Institut für Weltwirtschaft
Ungarn Tourismus
Pester Lloyd - deutsche Zeitung in Ungarn