Definitionsversuche über Europa und deren Kritikpunkte

Was ist europäisch?

Mit dem vorläufigen Scheitern des EU-Verfassungsprozesses und der Debatte über einen EU-Beitritt der Türkei erleben Versuche, Europa als "Wertegemeinschaft" zu definieren, Hochkonjunktur. Wissenschaftler sehen diese Entwicklung mit Unbehagen.

Politologe Johannes Pollak über europäische Werte

Was hält Europa im Innersten zusammen? Ist es das rechtliche Rahmenwerk der EU und der gemeinsame Wirtschaftsraum? Sind es gemeinsame Erfahrungen und Erinnerungen? Oder gar spezifisch "europäische Werte"?

Fragen wie diese bildeten den Ausgangspunkt einer internationalen Konferenz zum Thema "Was ist europäisch?", die letzte Woche an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften stattfand. Hintergrund war das wachsende Unbehagen über einen Europadiskurs, der europäische Identität über vermeintlich "europäische Werte" herstellen will - etwa über Demokratie, Menschenrechte oder den christlichen Glauben.

Auslöser der Debatte

Dass die Wertedebatte gerade jetzt so virulent geführt werde, sei kein Zufall, meint der Politikwissenschaftler Johannes Pollak. Auslöser dafür seien vor allem die Diskussionen über die Anrufung Gottes in der Präambel des Entwurfs der europäischen Verfassung, das Kopftuchverbot in Frankreich und die Debatte über den EU-Beitritt der Türkei gewesen:

"Hier sieht man deutlich, dass die Wertediskussion eine Stellvertreterdebatte zu wirklich wichtigen politischen Entscheidungen ist", unterstreicht Pollak.

Identitätsstiftung nach innen, Abgrenzung nach außen

Wo "Wertegemeinschaften" konstruiert werden und "gemeinsame Werte" verteidigt werden, geht es immer um Vereinheitlichung nach innen und Abgrenzung nach außen. Und das heißt im Fall der EU: Abwehr von Beitrittsaspirationen.

Wenn argumentiert wird, dass die Türkei in eine angeblich christlich-jüdische Gemeinschaft nicht hineinpasse - so Johannes Pollak - verdecke dies lediglich, dass es die EU bislang nicht geschafft hat, eine vernünftige Nachbarschaftspolitik zu etablieren: "Da in der EU die Religionsfreiheit als wichtiges Grundrecht gilt, kann man ja nicht sagen, dass die Anhängerschaft zu einer 'anderen' Religion ein Zeichen ist, dass man nicht europareif ist", argumentiert der Politologe.

Demokratie: kein spezifisch "europäischer Wert"

Neben der Religion wird oft die Demokratie ins Spiel gebracht, wenn es darum geht, genuin "europäische Werte" zu definieren. Historisch lasse sich zwar argumentieren, dass die Demokratie ein Produkt europäischer Kultur sei, sagt etwa der Schweizer Historiker Georg Kreis, in dem Maße, in dem auch die Welt europäisiert worden sei, könne man aber nicht sagen, dass man mit Demokratie ein Distinktionsmerkmal hätte.

Erklärt man die Demokratie zu einem "europäischen Wert", müsste man außerdem auch fragen, welche europäische Demokratie gemeint sei. Denn darüber, wie die demokratische Gestaltung der EU und eine ideale Verteilung der Kompetenzen zwischen den Institutionen der EU und den Nationalstaaten aussehen soll, gibt es ebenso unterschiedliche Ansichten wie darüber, in welcher Form die Bürgerinnen und Bürger auf allen Entscheidungsebenen einbezogen werden sollen.

Rechtsstaatlichkeit statt Wertedebatte

Versuche, die Einheit Europas über eine Religion oder eine spezifische Demokratie zu definieren, sind somit problematisch. "Hände weg von den Werten", empfiehlt daher Johannes Pollak. Der einzige Wert, an dem sich der europäische Einigungsprozess orientieren sollte, sei das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.

Dass das, was die EU zusammenhalte, jedoch lediglich gemeinsame Rechtsnormen sein sollen, war vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenz doch zu wenig. Wenn es nicht die Werte seien, die verbinden, so der Tenor, dann doch die gemeinsam geteilte Geschichte.

Europa als Erinnerungsgemeinschaft?

Aber: Welche Geschichte ist gemeint, wenn man vom gemeinsamen "europäischen Erbe" spricht? Aktuelle Versuche, eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur zu etablieren, setzen bei der Erinnerung an die Opfer der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts an. Doch auch hier gibt es nach wie vor Trennlinien und treten unterschiedliche Opfererzählungen miteinander in Konkurrenz - wie etwa die Debatte um das Zentrum gegen Vertreibung in Deutschland zeigt. Bis eine Ost- und Westeuropa einende Erinnerungskultur entstehe, werde noch viel Zeit vergehen, meint die Kulturwissenschaftlerin Sabine Offe.

Deutlich wird also eines: Was Europa ist und eint, ist immer Gegenstand politischer und kultureller Konstruktion und muss immer wieder von Neuem ausverhandelt werden. Jeder Versuch, die Frage "Was ist europäisch?" letztgültig zu definieren - sei es über gemeinsame Werte oder eine gemeinsame Geschichte - muss damit in einem schiefen Licht erscheinen.

Hör-Tipp
Dimensionen, Mittwoch, 15. November 2006, 19:05 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipps
Adolf Muschg," Was ist europäisch? Reden für einen gastlichen Erdteil", C. H. Beck, ISBN 3406534449

Monika Mokre, Gilbert Weiss, Rainer Bauböck (Hg.), "Europas Identitäten. Mythen, Konflikte, Konstruktionen", Campus Verlag, ISBN 3593372312

Tony Judt, "Geschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart", Hanser Verlag, ISBN 3446207775

Link
ÖAW - Konferenz "Was ist europäisch?"