Expertendiskussion über mögliche Regierungsvarianten
Wer mit wem und für wie lange?
Nach dem Stillstand der Koalitionsgespräche zwischen SPÖ und ÖVP rückt als künftige Regierungsform in Österreich immer mehr eine SPÖ-Minderheitsregierung in den Blickpunkt möglicher Varianten. Politologe Peter Filzmaier und Zeithistoriker Olvier Rathkolb analysieren.
8. April 2017, 21:58
Was wollen die Österreicher?
Nach dem derzeitigen Stand der Koalitionsverhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP ist eine Minderheitsregierung als künftige Regierungsform in Österreich nicht mehr ausgeschlossen, ja sogar wahrscheinlich.
In einer Diskussion im Journal-Studio analysierten unter Leitung von Wolfgang Werth der Politologe Peter Filzmaier und der Zeithistoriker Oliver Rathkolb anhand von historischen Gegebenheiten Konstellationen von damals und zogen hinsichtlich der aktuellen Lage Schlüsse für die künftige Regierungsbildung in unserem Land.
Welche Regierungsform kommt auf uns zu?
In dieser Frage sind sich beide Politikwissenschaftler einig. Denn sowohl Peter Filzmaier als auch Oliver Rathkolb sehen nach heutigem Stand eine Minderheitsregierung der SPÖ als wahrscheinlichste Variante. Allerdings werde sie früher oder später in Neuwahlen münden.
Eine Große Koalition wird jedenfalls von beiden Herren für eher unwahrscheinlich gehalten. Oliver Rathkolb fügt aber hinzu, dass es vielleicht - wenn man sich an den Wahlausgang im Jahr 2000 zurückerinnere - doch noch die eine oder andere Überraschung geben könnte.
Das Kreisky-Kabinett von 1970 im Vergleich
Einen Vergleich mit der Minderheitsregierung Kreisky von 1970 zu ziehen, die damals ja gut funktioniert hat, halten beide Wissenschaftler für unzulässig. So existiere nach den Worten von Oliver Rathkolb heute von keiner Partei eine Unterstützungserklärung, wie es sie damals von FPÖ-Obmann Friedrich Peter gegeben habe. Der zweite große Unterschied zu damals sei, dass im Gegensatz zu heute die Budget-Kassa dank der Koren'schen Budgetreform der Jahre zuvor prall gefüllt war.
Auch Peter Filzmaier bestätigt die mangelnde Vergleichbarkeit zur Situation von 1970: "Jede Minderheitsregierung braucht eine minimale Bestandsgarantie. Die hatte damals Kreisky mit Peter geschlossen, als er sagte: ' Ich gebe euch die Wahlrechtsreform, die euch das politische Überleben sichert, und ihr gebt mir dafür die Garantie, nicht sofort einem Misstrauensantrag zuzustimmen und auch budgetär mitzuhelfen. Das fehlt heute momentan." Kreisky hätte - so der Politologe - auch weitgehend das ideale Timing für Neuwahlen in der Hand gehabt; Alfred Gusenbauer habe das heute kaum.
Parteienvielfalt als Damoklesschwert
Oliver Rathkolb erinnert in diesem Zusammenhang, dass Kreisky damals auch hohe Überzeugungskraft aufwenden habe müssen, um überhaupt in den eigenen Reihen eine Koalition mit der FPÖ salonfähig zu machen. Eine Folge dieser Übereinkunft sei ja auch damals der Einstieg von Hannes Androsch als Finanzminister in die Regierung gewesen. Als weiteren wesentlichen Unterschied zur damaligen Minderheitsregierung nennt der Zeithistoriker auch die heutige Zahl der im Parlament vertretenen Parteien.
Auch Peter Filzmaier sieht die heutige Situation ungleich komplexer. Damals habe man nur die Duldung einer zweiten Partei gebraucht; heute bräuchte man mindestens zwei weitere Parteien, und zwar in Farbkombinationen, die sich praktisch von vornherein ausschlössen - also abgesehen von FPÖ und BZÖ beispielsweise Grün und Blau oder Grün und Orange: "Über einer möglichen SPÖ-Minderheitsregierung schweben zwei Damokles-Schwerte: das erste ist der täglich drohende Misstrauensantrag; und das zweite ist die bisher in der Öffentlichkeit unterschätzte Mehrheit, die es rechts der Mitte gibt, gegen die eine Minderheitsregierung antreten muss. Die SPÖ muss sich diesbezüglich zwar morgen und übermorgen keine Sorgen machen. Aber was passiert im nächsten Jahr bei allfälligen personellen Rochaden in den Parteien, also wenn sich etwa eine Mehrheit von ÖVP, FPÖ und BZÖ bildet, um gemeinsam zu regieren?"
Minderheitsregierung als High-Risk-Play
Eine SPÖ-Minderheitsregierung ist laut Filzmaier zwar einerseits eine schlechte Variante, andererseits aber die vielleicht am wenigsten schlechteste unter den derzeit vorhandenen Möglichkeiten. Nach seiner Ansicht macht es aus Sicht der SPÖ sehr wohl Sinn, in die nächsten Wahlen mit einem Amtsinhalber-Bonus zu gehen, und nicht mit dem Image des bisher "Noch-Nie-Kanzler-Gewesenen". Neuwahlen lehnt der Politologe jedenfalls ab, denn wenn sie beispielsweise jetzt gleich stattfänden, würde die Erstellung höllisch knapp werden, und zu lange mit einem Budget-Provisorium zu arbeiten, sei staatspolitisch heikel.
Oliver Rathkolb ist ebenso dieser Meinung: "Eine Minderheitsregierung ist ein High-Risk-Play - keine Frage. Es gibt aber Möglichkeiten, Optionen; das hängt jedoch erstens vom Team ab, nämlich, ob es gelingt, eine Regierung zusammenzustellen, die über den klassischen Parteikader-Bereich hinausreicht. Und der zweite zentrale Punkt ist, zumindest drei, vier Maßnahmen zu setzen, die die Menschen auch erreichen, sodass damit auch eine positive Stimmung im Fall von Neuwahlen geschaffen wird."
Anreize ohne Budget nicht möglich
Auf die Frage, ob eine Minderheitsregierung unter Alfred Gusenbauer nicht Anreize wie etwa Abschaffung der Studiengebühren oder Senkung der Klassenschüler-Höchstzahl schaffen könnte, um gestärkt in Neuwahlen gehen zu können, meint Peter Filzmaier: "Momentan fehlt das Schlüsselgesetz dafür. Das ist das Budget. Solange das Bundesfinanzgesetz nicht beschlossen ist, sind alle anderen teilweisen Einigungen Muster ohne Wert, denn es fehlt die Ermächtigung dafür, Geld auszugeben."
Das Argument, dass in dem Moment einer Neuwahl-Entscheidung mit der Auflösung des Nationalrats auch die Untersuchungsausschüsse beendet wären, sei zwar stichhaltig, aber die Untersuchungsausschüsse hätten ohnehin schon eine No-Win-Situation erreicht. Denn angenommen, es komme noch zu einer Annäherung zwischen SPÖ und ÖVP, dann würden die Ausschüsse unter dem Generalverdacht stehen, zu einem Schaulaufen zu werden. Würde es aber zu einer Eskalation zwischen SPÖ und ÖVP kommen, dann stünden sie wiederum unter dem Generalverdacht, sie seien nur der Ersatzschauplatz für diesen Konflikt. Also das Negativ-Image sei ohnehin schon da. Die sauberste Lösung wäre daher, die Untersuchungsausschüsse bei der nächsten Legislaturperiode neu einzurichten, sagt Filzmaier.
Ist lebendige Konkurrenz-Demokratie denkbar?
Neuwahlen seien jedenfalls die schlechtere Variante, meinen beide Wissenschaftler unisono. Auch der Wahlausgang habe bestätigt, dass die Wählerinnen und Wähler wesentlich flexibler und offener geworden seien, betont Oliver Rathkolb. Die Bürgerinnen und Bürger würden sich jedenfalls mit einer Minderheitsregierung eher anfreunden können als die politischen Parteien, die ein solches Kabinett nicht haben wollen. Der Zeithistoriker sieht in dieser Hinsicht vor allem einen Nachholbedarf der Politiker, sich von der langen Geschichte der Zweiten Republik langsam zu verabschieden - und zwar in Richtung einer lebendigeren Konkurrenz-Demokratie.
Und Peter Filzmaier ergänzt dazu: Die Politiker müssten sich vor allem von Machtgedanken befreien, also von dem, was Politikwissenschaftler formal als "freiwillige Fraktionsdisziplin" bezeichnen - weniger schön "Klubzwang" genannt: "Eine Minderheitsregierung macht Sinn, wenn die freie Mehrheitsbildung im Parlament nicht nur entlang von Parteigrenzen funktioniert, sondern anhand des verfassungsgemäß garantierten freien Mandats. Das würde zumindest zu einer Aufweichung, wenn nicht Abschaffung des Klubzwangs führen; und da sind sogar jene Parteien, die vielleicht kurzfristig bei der jeweils nächsten Abstimmung profitieren würden, sehr skeptisch, weil sie eine Büchse der Pandorra öffnen würden, die ihr Machtpotenzial extrem einschränkt."
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