Zivilisationshistorische Betrachtungen, Teil 2
Die Stadt und der Müll
In der Geschichte unseres Umgangs mit Müll stellt sich eine Frage ganz fundamental: jene von Macht und Ordnung. Die Frage ist: Wie bilden sich allgemein verbindliche Verhaltensnormen und Sozialstandards heraus? Wer legt diese fest?
8. April 2017, 21:58
Mit welch großem personellen und maschinellen Aufwand die Straßenreinigung zur vorvorigen Jahrhundertwende in einer Großstadt wie Wien betrieben wurde, mögen folgende Zahlen illustrieren: Rund 2600 Arbeiter waren mit der Säuberung von 15 Millionen Quadratmeter Verkehrsflächen beschäftigt, daneben stand der Stadt ein Fuhrpark von 571 Pferden, 113 Kehrmaschinen, 77 Sprengwagen, 171 Kehrichtwagen und 127 Spezialwagen zur Verfügung.
Hygienische Konditionierung
Auch die Entsorgung des Hausmülls war längst durchorganisiert: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Hauskehricht in eigenen Gefäßen gesammelt und von einem so genannten Mistbauern abtransportiert - eine in der Folge legendär gewordene Wiener Figur. Seine Ankunft wurde durch ein Glockensignal angekündigt, dessen regelmäßige Wiederkehr zum realen wie symbolischen Aufruf für die Reinhaltung der Stadt werden sollte. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Entsorgung des Hausmülls bestand allerdings noch nicht, und die Abfuhr war zunächst noch kostenlos.
Im Zeichen des Colonialismus
Abgelöst wurde der Mistbauer von dem in vielen Städten noch heute gebräuchlichen "Colonia"-System. Ursprünglich in Köln (sic!) erfunden, wurde das staubfreie Entsorgungssystem auch in Wien flächendeckend implementiert. Bis 1923 stellte man in den Hinterhöfen mehr als 173.000 "Colonia-Behälter" auf, eine "Colonialisierung", die in herrschaftlicher Manier den gesamten Stadtraum durchdrang.
Auch die öffentlichen Plätze und Straßen wurden von nun an sukzessive mit Abfallkörben ausgestattet, so dass, wie der Feuilletonist Ludwig Hirschfeld ironisch kommentierte, "Wien jetzt im sinnigen amtlichen Zeichen des Papierkorbes steht". Rund 6.000 Behälter wurden an den Masten von Beleuchtungskörpern, Verkehrsschildern oder Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel montiert. Darüber wies ein Schild mit der Aufschrift "Abfälle nicht wegwerfen, sondern
" auf den unmissverständlichen Zweck des neuen Straßenmöbels hin.
Entsorgung kostet
1934 wurde die regelmäßige Müllabfuhr gesetzlich verankert und flächendeckend für ganz Wien eingeführt. Dies hatte allerdings seinen Preis: Von nun an war dafür ein Entgelt zu bezahlen.
Im privaten wie im öffentlichen Bereich hatte sich mittlerweile ein stark von bürgerlichen Wertvorstellungen geprägter Begriff von Sauberkeit etabliert. Sauberkeit war zu einem Mittel der sozialen Unterscheidung und Repräsentation geworden, zu einem Zeichen für Gesittung, Anstand und Schönheit.
Abfälle auf geordnete Weise zu entsorgen, wurde allmählich für alle Schichten der Bevölkerung zur Selbstverständlichkeit und routinemäßig durchgeführten Handlung. Wer sich nicht an die geltenden Sauberkeitsstandards hielt, wurde mit sozialer Ächtung bestraft. In einem komplexen Wechselspiel zwischen kollektiven und individuellen, äußeren und inneren Zwängen formten sich strenge Toleranzgrenzen, die unseren Umgang mit Müll bis heute prägen.
überarbeitete Fassung eines Textes, erschienen in: Christoph Scharff/Christian Stiglitz (Hg.): Abfall zwischen Lifestyle und Verdrängung, Wien 2005
Mehr zur Entwicklung der Müllabfuhr in Wien in oe1.ORF.at
Hör-Tipp
Diagonal "Zum Thema: Mist Was von unserem Leben überbleibt", Samstag, 11. November 2006, 17:05 Uhr
Mehr dazu in Ö1 Programm
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Buch-Tipp
Peter Payer, "Sauberes Wien. Stadtreinigung und Abfallbeseitigung seit 1945", Holzhausen Verlag 2006, ISBN: 385493131X