Vergangenes in der Gegenwart ausfindig machen

Hier, wo wir uns begegnen

Der bekennender Biker, undogmatische Linker und Kunstbetrachter von Gnaden ist als Belletrist hierzulande lange noch nicht so bekannt, wie er es verdient. Lauter gute Gründe, John Bergers jüngst auf Deutsch erschienenes Erinnerungsbuch anzusehen.

John Berger, bekennender Biker, undogmatischer Linker, Kunstbetrachter von Gnaden und als Belletrist hierzulande lange noch nicht so bekannt, wie er es verdient, ist am 5. November 2006 80 Jahre alt geworden. Lauter gute Gründe, sich die achteinhalb Kapitel seines jüngst auf Deutsch erschienenen Erinnerungsbuches "Hier, wo wir uns begegnen" genauer anzusehen.

Keine Altherrenprosa

Sehr leicht fällt zu beschreiben, was dieser Prosaband nicht ist. Altherrenprosa etwa. Wie zuletzt zugemutet von den etwa gleichaltrigen Herren Grass und Walser. Auch der durch permanente Rückschau dräuenden Gefahr, sentimental oder gar rührselig zu werden, erliegt er keinmal. Kein Protzgehabe lenkt ab vom Gegenstand der Beschreibung, kein Renommieren mit Namen soll das Ich des Autors aufwerten und interessanter machen, als es ist. Berger gelingt es vielmehr, sich in anderen zu spiegeln, in ihren Mienen und Blicken deutlich zu machen, wovon zu reden sein Anliegen ist: Die Vergangenheit in der Gegenwart ausfindig zu machen.

Damit kein Irrtum entsteht

Der Grundton des Buches ist, bei aller Differenzierung, robust. Zupackend, hemdsärmelig geradezu. Die Lederkluft des Motorrad fahrenden Autors ist die Schale, in der er sich der Welt stellt. Der mäandernde Fluss der Erzählungen, als die die einzelnen Kapitel ohne weiteres für sich stehen könnten, zeichnet sich aus durch Ökonomie des Ausdrucks und hinreißend gelassene Präzision.

Nicht nur die Erinnerungen selbst, sondern der Vorgang des Erinnerns als solcher steht gleichberechtigt in Zentrum des Buches, dessen Titel nicht zufällig die grammatische Gegenwart im Titel führt und auf den jeweiligen Ort des hic et nunc, des Hier und jetzt verweist: Hier, wo wir uns begegnen.

Anleitung zum Erinnern

Ohne jemals ins Theoretisieren abzugleiten, kommt Berger dem Wesen der Erinnerung, so behutsam wie beharrlich, beglückend nahe. Die Übergänge zwischen seinen Absätzen vermitteln ein Glücksgefühl, wie man es von einem einsetzenden Rausch, einer aufkeimenden Verliebtheit, einer großen Entdeckung kennt. Ohne pädagogischen Ehrgeiz gelingt dem Autor eine Anleitung zum Erinnern.

Doch das eigene Ich wird nicht ausgespart, schon gar nicht geschont. Unverhofft trifft der Erzähler in Lissabon auf seine Mutter. Auf seine längst tote Mutter wohlgemerkt. Und verstrickt sich mit ihr in ein Gespräch. Nicht über die großen Fragen, sondern über die kleinen Dinge. So entgeht er der Verbitterung, wirft sich keinerlei Versäumnis vor, ist nur erstaunt und berückt von der sich so unverhofft ergebenen Gelegenheit, einer Chance, die zwar einzigartig ist, aber beleibe nicht die einzige und letzte sein muss. Die ungewohnte Umgebung tut durch ihre unverbrauchte Fremdheit ein Übriges: Der Umgang mit der Vergänglichkeit und dem Tod gewinnt aus ihr eine neue Souveränität.

Ein Bilderbogen schierer Gegenwärtigkeit

Da muss auch der Vater ins Bild treten. Und der Studienfreund. Und die frühe Geliebte. Das Tempo zieht an. Wo Gemälde waren, stehen nun, nicht minder tiefenscharf und detailgenau, Studien und Skizzen. Bis am Ende Liebe, Hochzeit, Familiengründung und Sesshaftwerdung polnischer Freunde einen großen Bilderbogen schierer Gegenwärtigkeit aufspannen. John Berger ist nun vollends Randfigur, doch beileibe keine unwichtige, geworden. Hier stehen, gerade im Angesicht des Überhangs an Historie und an Fremde, die man um der materiellen Basis und Sicherheit wegen hat in Kauf nehmen und Zuhause einschleppen müssen, alle Zeichen auf Zukunft. Die Gegenwart ist richtig prall geschwollen davon. Überall tummeln sich Kinder.

Das letzte Kapitel, ausgewiesen nur als 8 1/2., kehrt zum Gespräch mit der Mutter zurück, die, wiewohl leidenschaftliche Leserin, nie ein Buch des Sohnes gelesen hat. Und sie weiß auch genau, warum.

Während ich las, vergas ich die Zeit. Frauen fragen immer nach dem Leben anderer (…), Deine Bücher (…) so hoffte ich, handelten von einem anderen Leben, das ich mir gerne ausmalte, aber nicht führen wollte, das ich mir bisweilen vorstellte, aber nicht mit Worten.

Dass es John Berger gelungen ist, die Möglichkeit des anderen Lebens eindrücklich in ganz eigene Worte zu fassen, durch aus nicht ohne Meisterschaft, das sollte hier in aller gebührenden Deutlichkeit gesagt sein.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 10. November 2006, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 12. November 2006, 18:15 Uhr

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Download-Tipp
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Buch-Tipp
John Berger, "Hier, wo wir uns begegnen", aus dem Englischen von Hans-Jürgen Balmes, Hanser, ISBN 3446206558