70.000 Behinderte wurden ermordet
Aktion "T4"
Menchen mit Behinderung hatten im NS-Regime nur dann eine Überlebenschance, wenn sie als arbeitsfähig eingestuft wurden. Wirtschaftliche Überlegungen zählten mehr als ideologische Kriterien. Das zeigt die Auswertung der Akten der Nazi-Mordaktion "T4".
8. April 2017, 21:58
Die Aktion "T4" war die erste systematische Massenvernichtungsaktion während des nationalsozialistischen Regimes. Der Deckname geht auf den Sitz der Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 zurück. Von hier aus wurde zwischen 1939 und 1945 die Ermordung von über 200.000 Menschen mit Behinderung organisiert.
Die Aktion "T4" bezieht sich auf den Zeitraum von Jänner 1940 bis August 1941. In diesen 20 Monaten wurden 70.372 psychisch kranke Anstaltspatienten in sechs Vernichtungsanstalten durch Gas ermordet und anschließend verbrannt.
Genau vor 65 Jahren wurde die Aktion wegen wachsender Unruhe in der Bevölkerung abgebrochen. Danach wurden Behinderte direkt in den Anstalten ermordet, zumeist durch Verhungern lassen.
30.000 Krankenakten entdeckt
Der Großteil der "T4"-Akten ist vernichtet worden. Der Rest galt als verschollen. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 sind aber 30.000 Akten aufgetaucht. Der junge Heidelberger Psychiater Gerrit Hohendorf und der Giessener Medizinhistoriker Volker Roelke haben sie entdeckt und vor dem Verrotten bewahrt.
Eine Gruppe kritischer deutscher Wissenschafter hat die Akten gesichtet und 3000 in akribischer Arbeit ausgewertet. Erstmals standen nicht wie bisher die Täter im Mittelpunkt der Forschung, sondern die individuellen Opfer. Jetzt liegen die Ergebnisse vor.
Auf die Arbeitskraft kam es an
Die Wissenschafter hat besonders interessiert, was die Selektionskriterien waren, nach denen die Opfer für "T4" ausgewählt wurden. Mit aufwändigen statistischen Verfahren sind sie zu einigen überraschenden Ergebnissen gekommen. Zum Beispiel, dass nicht die Erbgesundheit den Ausschlag für das Todesurteil der Insassen gegeben hat, sondern die Frage der Arbeitsfähigkeit.
Brachte einer der insgesamt 42 Gutachter auf dem Meldebogen eines Patienten den Vermerk "nicht arbeitsfähig" an, kam das einem Todesurteil gleich. Das legt den Schluss nahe, dass bei der Aktion "T4" die Ökonomie wichtiger war als die Ideologie.
Dafür spricht auch, dass die Straffälligkeit von behinderten Patienten kein Euthanasie-Kriterium war. Vorbestrafte wurden verschont, wenn sie gute Arbeitskräfte waren.
Die Auswertung der Akten hat auch ergeben, dass mehr Frauen als Männer der Aktion "T4" zum Opfer gefallen sind. Das könnte damit zu tun haben, dass die Arbeitskraft der Frauen geringer geschätzt wurde, vermutet die Heidelberger Psychiaterin Maike Rotzoll.
Die meisten Opfer in Tötungsanstalt Hartheim/Linz
In Schloss Hartheim bei Linz, der einzigen Tötungsanstalt auf österreichischem Boden, sind die meisten Menschen umgebracht worden. Es gab hier 18.000 Opfer. Die hohe Opferzahl erklärt Wolfgang Neugebauer, langjähriger Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes mit der Struktur der Anstalten. In Österreich gab es sehr große Anstalten, von denen der Abtransport nach Hartheim sehr gut organisiert werden konnte. In Österreich wurde das Kriterium Arbeitsfähigkeit besonders streng angewendet.
"T4" war der technische Probelauf für die Massenvernichtung der Juden, sagen manche Historiker. Es war schon Holocaust, behauptet dagegen der New Yorker Historiker und Auschwitz-Überlebende Henry Friedlander.
Hör-Tipp
Dimensionen, Donnerstag, 9. November 2006, 19:05 Uhr
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