Im Norden Kanadas

Wo die vier Winde wehen

Im Jahre 1778 landete der britische Seefahrer James Cook in der Bucht einer unbekannten Insel. Aufgrund eines Missverständnisses gab er der Insel den Namen Nootka. Heute leben nur mehr zwei Nachkommen des einst mächtigen Stammes der Mowachaht dort.

An einem stürmischen Märztag des Jahres 1778 landete der britische Seefahrer James Cook, auf der Suche nach der sagenhaften Nordpassage zwischen Atlantischem und Stillem Ozean, auf einer unbekannten Insel. Die Ureinwohner, die Mowachaht-Indianer, nannten den winzigen Flecken Land, der zwischen Südalaska und Nordkalifornien im Pazifik liegt und zur zerklüfteten Westküste von Vancouver Island gehört, "Yuquot" - "die Insel, auf der die vier Winde wehen".

Heute heißt diese Insel Nootka Island und nur mehr zwei Nachkommen des Stammes der Mowachaht leben hier. Der Rest der ursprünglichen Bewohner - etwa 44 Familien - wohnt in einem Reservat, etwa drei Kilometer nördlich der Stadt Gold River auf Vancouver Island.

Ray Williams und seine Frau Tierry sind die einzigen, die dem Lockruf der Regierung - freie Wohnungen in Gold River, freien Schul - und Studienzugang - nicht gefolgt sind. An der südöstlichen Spitze von Yuquot - oder Nootka Island -, in der Bucht namens Friendly Cove leben die beiden vom Fischen und von der Jagd, wie einst ihre Vorfahren.

Am Anfang war ein Missverständnis

Ray Williams, der alte Mowachaht-Indianer, wurde in den 1940er Jahren in einer von der Anglikanischen Kirche Kanadas geführten Reservatsschule erzogen. 1967 mussten diese Institutionen aufgrund schwerer Missbrauchsvorwürfe wieder schließen. Seitdem bilden sie ein dunkles Kapitel in der Geschichte des kanadischen Staates.

Ray hat die Geschichtsbücher dieser Schulen studiert: Bücher, in denen kaum ein Wort über sein Volk zu lesen war. Seine eigene Geschichte kennt er indes durch mündliche Überlieferung. So weiß er zum Beispiel, dass schon die erste Begegnung mit James Cook, dem glorreichen Entdecker, mit einem Missverständnis begann:

"Als Captain Cook hierher kam, fuhren unsere Leute mit ihren Kanus hinaus, um ihn in die Bucht zu geleiten. Er hatte sich im Nebel verirrt und meine Vorfahren riefen: 'nook-sitl' - 'Ihr müsst um die Insel herumfahren!' Aber Captain Cook und seine Leute konnten 'nook-sitl' nicht verstehen und dachten, 'Nootka' sei also der Name der Insel. Der Name 'Nootka' ist aber nicht nur ein falsch übersetztes, sondern noch dazu ein falsch ausgesprochenes Mowachaht-Wort."

Die Regierung versuchte, Ray und seine Frau zur Umsiedlung nach Gold River zu überreden. Ohne Erfolg. Die Angebote seitens Kanadas sind generell großzügig, weite Gebiete wurden bereits rückerstattet. Doch in den Augen der "First Nation People", wie die Kanadier die Indianer höflich nennen, ist dies zu wenig. Immerhin habe man ihnen nicht nur das Land genommen, sondern auch die Sprache. Seit 1945 wurden die Kinder der Mowachaht gezwungen, Englisch zu sprechen. 98 Prozent des Stammes beherrschen ihre ureigene Sprache nicht mehr.

Geträumte Bilder
Sanford Williams, der Sohn von Ray und Tierry, lebt wie seine übrige Verwandtschaft in Gold River. Seit einiger Zeit findet man ihn jedoch weit öfter in seiner kleinen Werkstatt auf Yuquot. Den Alltag in der "Freundlichen Bucht" mit schnitzen, fischen und Lachs räuchern empfindet er als "heilsam", sagt er. Das subventionierte Leben im Reservat hatte ihn krank gemacht: Wie viele seiner Altersgenossen hatte auch Sanford mit Alkoholproblemen zu kämpfen.

Das Holzschnitzen hat Sanford von seinem Vater gelernt. Seine Werke - Wappen-Pfähle, Wolfsmasken, die Darstellung von Bär, Adler oder Walfisch - hat er bereits in zahlreichen Ausstellungen auch außerhalb Kanadas gezeigt. Für seine Masken verwendet er Zedernholz. Als erstes wartet er auf einen Traum. So wie seine Vorfahren es als Zeichen von Reife ansahen, wenn ein Heranwachsender seine ersten "Visionen" hatte, so sieht Sanford im Traum Geschichten: Bilder, die er sogleich im Holz festhält, um sie nicht zu vergessen.

Erinnerung und Wiedergeburt
Nicht zu vergessen sei das Wichtigste, meint Ray Williams. Er will die alte Sprache vor dem Vergessen bewahren. "Wakash" nennt man die Sprache der Mowachaht, die sich in der jüngeren Vergangenheit mit anderen Gruppen zum Großstamm der Nuu-Cah-Nulth zusammengeschlossen haben. Ray Williams unterrichtet seine Söhne und Enkelkinder in der nicht leicht zu beherrschenden Sprache, deren Konsonanten zum größten Teil mit den Seiten der Zunge an der Wange gebildet werden.

Nicht vergessen werden bei den Mowachahts auch die Ahnen, die durch Wiedergeburt unsterblichen Vorfahren. Die Geschichte mit "Luna, dem Wal", verdeutlicht dies besonders anschaulich:

"Chief Maquinna" heißen alle Häuptlinge des Stammes seit unzähligen Generationen. Mike Maquinna war es, der einst Captain Cook auf Nootka Island willkommen hieß, und Maquinnas Nachfahren waren es, die mit ansehen mussten, wie eingeschleppte Geschlechtskrankheiten und eingehandelter Alkohol den Stamm um bis zu 90 Prozent dezimierten. Ambrose Maquinna war es schließlich, der im Sommer 2001 verstarb. Seine letzten Worte prophezeiten seine Wiedergeburt in Gestalt eines Wales.

Als kurze Zeit danach ein junger Wal, ein Orca, in den Gewässern des Nootka Sound vor Gold River auftauchte, begrüßten ihn die Mowachaht euphorisch. Indes wollte aber das Fischereiministerium von Ottawa den Wal in ein Aquarium bei Los Angeles überführen, was einen großen Streit zur Folge hatte. Die Geschichte mit Luna nahm kein gutes Ende. Zwar gelang es den Mowachahts, den Orca vor dem Abtransport zu bewahren, das Tier gewöhnte sich jedoch zu sehr an die Menschen im Nootka Sound. Im März dieses Jahres geriet Luna in den Propeller eines Fischerbootes und verendete. Die Mowachahts warten nun auf ein nächstes Zeichen der Wiedergeburt von Chief Ambrose Maquinna.

Der Heilige Schrein

Die Mythen der Nuu-chah-nulth konzentrieren sich zu einem großen Teil auf Geschichten über Wale. Das berühmteste Kunstwerk ihrer Kultur ist der "Whaler's Shrine". Versteckt war der Holzschrein einst auf Yuquot, auf einer winzigen Insel im Jewitt-See, an den sich die Walfänger vor der Jagd zurückzogen, um sich zu reinigen und um Jagderfolg zu bitten.

Der Schrein mit 16 Schädelknochen von Vorfahren sowie 92 geschnitzten Holzfiguren ist heute im "Museum of Natural History" in New York aufbewahrt. Täglich besucht Sanford Williams jenen heiligen Ort am Jewitt-See, um zu beten: "Es ist wie in die Kirche gehen. Du kommst hierher und bittest um Beistand in schweren Zeiten. Es gibt keine Worte für diese Bitten, ich kann diese Sätze also nicht aussprechen, aber ich habe sie tief in mir drin, so wie meine Träume."

Hör-Tipp
Ambiente, Sonntag, 22. November 2009, 10:06 Uhr

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