Ein Leben in Nazi-Deutschland

Fremde Mutter

Mit dem Roman "Fremde Mutter" will Christine Haidegger ein Stück deutscher Zeitgeschichte ins Bewusstsein rücken. Als Form hat sie eine Gesprächssituation zwischen einem jungen Arzt und Elisabeth, der Protagonistin des Romans, gewählt.

Kurz vor ihrem Tod in der Euthanasieanstalt Hartheim in Österreich trifft Elisabeth in einem Anhaltelager auf einen jungen Arzt, dem sie ihre Lebensgeschichte anvertraut. Schon bald ahnt der Leser, dass hier eine junge Frau spricht, die weiß, dass ihr Schicksal so gut wie besiegelt ist: Ihr Aufruf an die Soldaten, nicht in den Krieg zu ziehen, hat als aufrührerischer Akt gegolten und war aufs Schwerste zu ahnden.

"Es ist ein purer Akt der Verzweiflung, ein kleiner Versuch", so die Autorin. "Sie denkt für einen Moment, sie könnte diesen ganzen Wahnsinn, den sie durchschaut, aufhalten."

Zwischen Kaiserreich und Nazi-Deutschland

Nach ihrer Verhaftung trifft Elisabeth im Anhaltelager auf einen jungen Arzt, der noch in Ausbildung ist und dem sie ihr Herz ausschütten kann. So werden Arzt und Leser zugleich Zeitzeugen eines tragischen Schicksals. Christine Haidegger ging es darum, "etwas aufzubewahren; das Leben einer so genannten normalen, auch ein bisschen naiven Frau zwischen Kaiserreich und Nazi-Deutschland."

Christine Haidegger taucht in das Milieu der kleinen Leute, beschreibt das ökonomische und soziale Umfeld ebenso wie Elisabeths emotionales Verhältnis zur Mutter. Diese bleibt stets distanziert und ist keine Frau, die ihre Liebe durch Umarmungen ausdrücken kann.

Wo sind die Kinder?

Haidegger will in ihrem Roman "Fremde Mutter" aber auch die korrumpierte Moral der Menschen im Nazideutschland aufzeigen: "Darum geht es, dass viele Menschen, die zu der Zeit erwachsen waren, immer wieder behauptet haben, sie hätten nichts gesehen, nichts gehört und nichts gewusst."

"Fragen Sie nach, wo die Kinder geblieben sind, die nach Hartheim gingen. Fragen Sie nach der vierjährigen, taubstummen Elsi Obermeier. Oder Bernd Setzer, sieben Jahre, Epileptiker. An die beiden erinnere ich mich sehr gut.

Das Schicksal meistern

Die Erinnerungen von Elisabeth zeugen von einer scharfen Beobachtungsgabe, aber auch von einem starken Selbstbewusstsein. Sie ist eine Frau, die nicht nur ihr Schicksal zu meistern versteht, sondern auch lernt, die politischen, wie die menschlichen Umstände im Deutschland unter Adolf Hitler richtig zu deuten. So schafft sie es auch, ihren kaum zwei Jahre alten Sohn rechtzeitig ins rettende Ausland zu bringen, obwohl sie weiß, dass sie ihn nie wieder sehen wird.

"Wie alt ist Johannes jetzt?"
"Eineinhalb, Doktor. Ich stelle mir vor, wie er auf dem Bauernhof herumläuft, hinter den Hühnern herjagt, ab und zu noch hinfällt. Wenn er lacht, sieht er aus wie Hans, obwohl er vielleicht immer noch blonde Haare hat, das ändert sich bei kleineren Kindern doch alles, vielleicht hat er inzwischen dunklere Haare."


Dieser Sohn wird erst viele Jahre später durch die Berichte des jungen Arztes die Lebensgeschichte seiner verstorbenen Mutter kennen lernen.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 27. Oktober 2006, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 29. Oktober 2006, 18:15 Uhr

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Download-Tipp
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Buch-Tipp
Christine Haidegger, "Fremde Mutter", Otto Müller Verlag 2006, ISBN 3701311196