Franz Schuh über den Tod

Rasch verrinnt das Leben

Mitten unter Notizen über Alltägliches schreibt Arthur Schnitzler am 19. Jänner 1917 in sein Tagebuch: "Die ungeheure Raschheit, mit der das Leben verrinnt - Unheimlichkeit des Lebens." So banal sind die besten Sätze über den Tod, meint Franz Schuh.

In philosophischen Kreisen gibt es ein leicht gereiztes Gemurmel über die Verwendung großer Begriffe. "Die Vorliebe für große und allgemeine Begriffe - Gott Geld, Medium, Macht, Liebe -", schreibt Wolfgang Ullrich, "lässt nicht nur vieles offen, sondern erlaubt auch unendliche Permutationen; sie sind wie Dominosteine, die verschiedene Wertigkeiten zugleich besitzen: Man kann in ein zwei Sätzen von einem Begriff zum nächsten kommen."

So ist es, aber man kann diese Kritik zugleich als ein Kompliment verstehen: Mit solchen Begriffen kann man arbeiten, sein Spiel machen, um - nicht zuletzt über die verschiedenen Wertigkeiten - ein Gebilde gedanklicher Komplexität zu errichten.

Er betrifft jeden

Beim Tod ist es aber schwerlich bloß ein Spiel. Der Tod ist ein privilegiertes Thema: Er betrifft jeden. Mein Vortrag über den Tod geht einer lobenswerten Konvention voraus, den Totengedenktagen im November. Aber auch zu jeder anderen Zeit erfüllt der Tod das wichtige journalistische Kriterium: Er ist aktuell.

Berliner Nachrufe

Einmal war ich in Berlin und las an einem Freitag den "Tagesspiegel", eine dort etablierte Zeitung. Darin stand etwas, das zu allen anderen Zeitungen einen großen Unterschied machte. Man stelle sich vor, in einer Zeitung, die von Aktualitäten ausgestopft ist und die so ihr papierenes Leben fristet, standen relativ ausführliche Nachrufe über jüngst verstorbene Berliner.

Die Verstorbenen zählten keinesfalls zur üblichen Medien-Nahrung, nämlich nicht zur "Prominenz". Sie waren Berliner (oder Menschen, die lange in Berlin gelebt haben), Frauen und Männer, Arbeiter, Studentinnen, Bürger, Bettelmänner, Beamte und Verkäuferinnen.

Ich begriff, diese Artikel, die Nachrufe waren, stammten aus einer branchenunüblichen Liebe; diese Liebe galt einerseits Menschen überhaupt, und zwar angesichts ihres Todes, der alles, was sie im Leben gewesen sind, zugleich nichtig und in der Rückschau wichtig machte.

Appell an die Lebenden

Unaufdringlich appellierten die Nachrufe an die Überlebenden, die's ja auch nicht für immer sein würden. Es ist der Weg allen Fleisches, den die Zeitung in Ehrfurcht und ohne viel Tamtam jeden Freitag begleitete. Was bleibt, was die Toten überlebt, ist auf jeden Fall Berlin, und die Stadt ist es, der die branchenunübliche Liebe andererseits gilt.

Es sind unsere Toten, sagen die Berliner Nachrufe; es ist von Menschen die Rede, die ihren Lebenskampf in unserer Stadt führten. Auch sie haben im Alltag aus dieser Stadt einen menschlichen Ort gemacht. Der gewöhnliche Tod unterminiert das Zeitungskonzept der angesagten Aufregungen. Ein Spiel ist das alles nicht; es steckt etwas Unbedingtes darin - schließlich muss jeder Mensch mit seiner Sterblichkeit rechnen; er hat keine Wahl.

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Diagonal, Samstag, 28. Oktober 2006, 17:05 Uhr

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Buch-Tipps
Franz Schuh, "Hilfe! Ein Versuch zur Güte", Styria Verlag 2006, ISBN 3222131716

Franz Schuh, "Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche", Zsolnay Verlag 2006, ISBN 3552053700