In Wort und Bild

Ilse Aichinger

Es sind vor allem die Porträts von Stefan Moses, die diesen Bildband zum Ereignis machen. Moses, einer der Großen der deutschen Nachkriegsfotografie, hat die Dichterin über die Jahrzehnte hinweg begleitet und auf eindrucksvolle Weise abgelichtet.

"Schreiben ist sterben lernen", hat Ilse Aichinger einmal notiert. Und weiter: "Es ist alles zum letzten Mal. Wenn wir das einsehen würden, ginge uns die Liebe auf." Vertieft man sich in den Fotoband, den der deutsche Porträtfotograf Stefan Moses zu Aichingers 85. Geburtstag herausgebracht hat, lässt sich feststellen: An Liebe scheint es in Aichingers Leben nicht gemangelt zu haben, so reich an Verlusterfahrungen dieses Leben auch gewesen sein mag.

Berührende Fotos

Man stößt auf berührende Doppelporträts der Zwillingsschwestern Ilse und Helga Aichinger in diesem Band, entstanden Ende der 1920er Jahre während der Sommerferien am Attersee. Man stößt auch auf ein etwas unscharfes Foto aus den 1930ern, aufgenommen am Bahnhof Bad Ischl: Ilse als Backfisch in trachtenähnlicher Adjustierung, daneben, im Blümchenkleid, Mutter Berta und, mit Hut, die innig geliebte Großmutter, die im Mai 1942 von den Nazis nach Minsk deportiert und ermordet wurde.

Nicht zuletzt stößt man auch auf zahlreiche Schnappschüsse aus der Nachkriegszeit: Ilse Aichinger und ihr Mann Günter Eich im gemeinsamen Haus in Großgmain bei Salzburg; die Autorin mit Mirjam und Clemens, den beiden Kindern. Einige Aufnahmen zeigen die Dichterin mit ihrem viel zu früh verstorbenen Freund und Seelengefährten Richard Reichensperger.

Zuletzt scheint Ilse Aichinger in ihrer Geburtsstadt Wien doch so etwas wie eine Heimat gefunden zu haben, auch wenn sie in einem Interview einmal bekannt hat. "Ich kann mir eigentlich keinen Ort auf der Welt vorstellen, wo ich sagen würde: Da bin ich wirklich zu Haus."

Das Unbewusste zu seinem Recht kommen lassen

Das Schweigen, man weiß es, spielt im Oeuvre Ilse Aichingers eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Dichterin hat so etwas wie eine "Poetik des Schweigens" entwickelt, könnte man sagen. Jeder Satz, so die Essenz dieser Poetik, muss durch viele ungeschriebene Sätze gedeckt sein. Dem Wortschwall der Alltagswelt, dem achtlos dahingeschluderten Wortmüll stellt die Dichtung Aichingers eine Besinnung auf das Ungesagte, vielleicht auch das Unsagbare entgegen.

Kein Wunder, dass Ilse Aichingers Schreibtechnik gewisse Parallelen zu zen-buddhistischen Meditations-Praktiken aufzuweisen scheint. Im Schreibprozess müsse vor allem das Unbewusste zu seinem Recht kommen, betont die Dichterin:

"Das Bewusstsein muss ermüdet werden. Es geht mir so wie dem Jongleur Rastelli, von dem Walter Benjamin berichtet. Man hat ihn gefragt: Wie machen Sie das mit den vielen Bällen? Und da hat Rastelli gesagt: Ich muss sehr viel üben, aber ich muss deshalb so viel üben, damit ich müde werde und aus dem Spiel herauskomme, damit meine Hände allein bleiben, ohne mich, ohne mein kontrollierendes Bewusstsein, das stören könnte. Und so kommt es mir manchmal vor: Ich muss müde werden, damit das Schreiben allein sein kann."

Begleiter durch viele Jahrzehnte

Es sind natürlich vor allem die Porträts von Stefan Moses, die den Bildband zum Ereignis machen. Moses, einer der Großen der deutschen Nachkriegsfotografie, hat die Dichterin über die Jahrzehnte hinweg begleitet und auf eindrucksvolle Weise abgelichtet, ob in ihrer Küche in Großgmain oder beim Schreiben im Café des Hotels Imperial in Wien, ob bei Waldspaziergängen im Salzburger Umland oder bei einem Autorentreffen des Residenz-Verlags 1979, wo Ilse Aichinger sich hinter Gernot Wolfgruber und Peter Rosei fast zu verstecken scheint.

Die aktuellsten Aufnahmen sind im Sanatorium Liebhartstal in Wien-Ottakring entstanden. Hier lebt die Dichterin seit geraumer Zeit. Eine ältere Dame im Rollstuhl sieht man auf diesen Bildern, porträtiert von einem weißhaarigen Herrn mit Kamera, ebenfalls im Rollstuhl sitzend: Das ist niemand anderer als Stefan Moses. Eine heitere Entspanntheit geht von diesen Fotos aus, eine souveräne Gelassenheit in Schwarz-Weiß, von der man der Jubilarin wünscht, dass sie sich nicht nur auf die Zeit der Foto-Shootings beschränke.

Die Fotos stehen im Zentrum des vorliegenden Bandes. Die sparsam dazwischen platzierten Texte Ilse Aichingers sind von kundiger Hand ausgewählt: Prosaskizzen, Feuilletons, Gedichte aus früheren Büchern der Autorin, aus dem Lyrikband "Verschenkter Rat" etwa oder aus der meisterlichen Prosasammlung "Kleist Moos Fasane" aus dem Jahr 1987. Insgesamt eine würdige Edition zum Geburtstag der Dichterin.

Kohlenwagen oder Totenwagen? Eingeladen oder ausgeladen? Und dazwischen über den verschneiten Weg getragen werden, über dem die Zweige stillstehen und die Eichhörnchen springen. Und niemanden merken lassen, dass man lebt, dass man lebt. Wo schlafen die Vögel?

Mehr zu Ilse Aichinger in oe1.ORF.at

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 29. Oktober 2006, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
"Ilse Aichinger. Ein Bilderbuch von Stefan Moses", mit ausgewählten Texten von Ilse Aichinger und einem Vorwort von Michael Krüger, Verlag S. Fischer 2006, ISBN 3100005287