Venedig der Mikroorganismen
Mikrostadt Biofilm
Wie kommt es dazu, dass Flüsse sich selbst reinigen oder das Oberflächenwasser als Grundwasser trinkbar wird? Das Geheimnis dahinter sind Mikroorganismen in ihrem selbstgebauten, gemeinschaftlichen Wohnprojekt, dem so genannten Biofilm.
8. April 2017, 21:58
Die weitaus überwiegende Anzahl an Mikroorganismen lebt nicht wie lange vermutet als Einzelgänger in der Natur, sondern ist in Form von Biofilmen organisiert. Wissenschaftler vergleichen den Aufbau eines Biofilms mit dem einer Stadt. Diese Metapher dient dazu, komplexe Zusammenhänge in diesen Parallelwelten zu verstehen und behandeln zu können.
Vielfältige Mikrostädte
Die Bewohner und Erbauer dieser Mikrostädte, also Bakterien, Amöben, Algen und auch Pilze, übernehmen unterschiedliche Aufgaben. Sie beliefern sich gegenseitig und schützen sich gemeinschaftlich vor Bedrohungen. Biofilme können wie eintönige Ghettosiedlungen oder pulsierende, vielfältige Stadtzentren strukturiert sein. Kanäle für den An- und Abtransport von Nährstoffen werden von den Mikroorganismen angelegt - sehr venezianisch.
Die städtische Nähe verschafft den Mikroorganismen Interaktionsmöglichkeiten, die wiederum uns Menschen Vorteile bringen können, etwa wenn es um den Abbau komplexer giftiger Verbindungen in Kläranlagen geht. Biofilme spielen auch in Selbstreinigungsprozessen der Natur eine zentrale Rolle. Sie arbeiten als globale Putzkolonne, indem sie Nährstoffe sammeln und diese konzentriert abbauen. Biofilme sind maßgeblich beteiligt am Zustand unserer Umwelt.
Crosstalk in der Schleimstadt
Vor kurzem hat die Wissenschaft entdeckt, dass Bakterien miteinander kommunizieren. Durch die Absonderung von Molekülen werden anderen, zumeist artverwandten Bakterien Botschaften übermittelt. Bakterien sprechen je nach ihrer Herkunft unterschiedliche Molekül-Sprachen, die maßgeblich zur Organisation des Biofilm-Wachstums beitragen. An der Wurzel von Pflanzen beispielsweise können sie in etwa 70 Quadratmeter weit kommunizieren - Übertragen auf den Menschen bedeutet das ein Gespräch von zwei Personen auf der Distanz eines Fußballfelds.
Molekülsprachen werden aber von Bakterien nicht ausschließlich für Gespräche innerhalb der Biofilmstädte benutzt, sondern sie versuchen auch mit höheren Organismen, auch mit dem Menschen, Kontakt aufzunehmen.
Biofilm im Körper
Der schleimige, braun-grüne Überzug auf glitschigen Steinen im Bach wird oft als "unappetitlich" oder "Ekel erregend" bezeichnet. Zu unrecht? Dabei gibt es Biofilmstädte auch in unserem Körper. In der Darmflora hilft er etwa bei der Nahrungsumwandlung.
Im Mund hilft der Biofilm nicht nur, sondern dort kann er auch Probleme verursachen: Zum Beispiel in Form von Parodontitis, einer bakteriell bedingten Entzündung ausgelöst durch Zahnbelag. Die alt bekannte Technik des Zähneputzens bietet aber Schutz vor Biofilmen im Mund. Durch das mechanische Zerstören und Zerrupfen vom Schleim wird die Ausbreitungsmöglichkeit von Biofilm verringert. Krankheitserregende Bakterien wachsen in unserem Körper oftmals in Form eines Biofilms und sind somit besonders widerstandsfähig.
Good Guys und Bad Guys
Viele Jahre wurde hauptsächlich an Bakterien geforscht, die dem Menschen Schaden zufügen können. Um krankmachenden Bakterien, so genannten Pathogenen, zum Beispiel mit Antibiotika, also mit Medikamenten zur Behandlung von Infektionskrankheiten, Herr werden zu können. Der Überzahl aller anderen Arten, die ebenfalls unseren Körper besiedeln, schenkte man hingegen kaum Beachtung.
Antibiotika sind meist sehr unspezifisch in ihrer Wirkung, nicht nur die pathogenen Bakterien sondern ein Großteil der "guten" Bakterienflora kann ebenso davon betroffen sein, da im Biofilm im Körper die krankmachenden Bakterien mit den guten gemeinsam leben. Je gesünder der Körper ist und je gesünder die "gute" Bakterienflora ist, desto weniger dieser Pathogene können sich in ihm vermehren.
Die Biofilmforschung erkundet neue Wege abseits vom Antibiotika- Einsatz zur Bekämpfung bakterieller Infektionen. Dabei stoßen die Forscher auch auf ein altbekanntes Heilmittel zur Stärkung der Abwehrkräfte: Knoblauch enthält Substanzen, die Kommunikation im Biofilm blockieren und durch diese die Ausbreitung pathogener Bakterien verringern.
Unterwasserstädte
Wasser ist ein Naturprodukt, in dem sich neben vielen anderen Mikroorganismen auch krankmachende Keime befinden können, die Infektionen auslösen. In den benetzten Oberflächen der Rohre, in Duschschläuchen, in Heißwasserboilern oder im Abfluss von Wasserleitungen wachsen Biofilmstädte, die für diese Keime einen geeigneten Lebensraum oder Schutz gegenüber Desinfektionsmittel darstellen. Solange aber ein Trinkwassersystem gut gewartet ist und die Rohre gleichmäßig von Wasser durchflossen werden, stellen Biofilme kein großes Infektionsrisiko für den Menschen dar.
Biofilme existieren bereits seit 3,6 Milliarden Jahren als Organisationsform der Bakterien. Einerseits unterstützen bakterielle Biofilme den Menschen in seinen komplexen Systemen - zum Beispiel beim Abbau von Abwässern in Kläranlagen. An anderen Orten können Bakterien in Biofilmen eine Gefahr für unsere Gesundheit darstellen. So kann der Mensch nur versuchen, das System Biofilm verstehen zu lernen, versuchen mit ihm Kommunikation aufzunehmen und so gut wie möglich gemeinsam zu existieren.
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 23. Okotober, bis Mittwoch, 25. Oktober 2006, 9:30 Uhr
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