Bibliotheksbauten refomieren den Zugang zum Wissen
Ruheinseln und Wissenstürme
Spektakuläre Neubauten in Europa, Nordamerika und Asien signalisieren, dass die Bibliothek auch im Zeitalter der Digitalisierung keineswegs abgedankt hat. Die Anforderungen, die an sie gestellt werden, haben sich jedoch entscheidend gewandelt.
8. April 2017, 21:58
Bibliotheken sind längst nicht nur mehr Orte des Wissens. Sie werden heute immer mehr zu Räumen, in denen Bildungs-, Unterhaltungs- und Ruheangebote ineinander fließen.
Wie gehen Bibliotheken mit diesem neuen Anforderungsprofil um? Und wie spiegelt sich dieses in ihrer Architektur? Diese Fragen waren Thema einer gemeinsam von der Wienbibliothek im Rathaus und dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften organisierten Tagung, die dieser Tage in Wien stattfand.
Die Demokratisierung des Wissens
Unser Verhältnis zu Büchern hat sich in den letzten Jahrzehnten radikal verändert. Spätestens seit den 1960er Jahren ist das Buch ein Massenmedium, das die Demokratisierung des Wissens vorantreibt. Sieht man von Ausnahmen wie wertvollen Drucken oder Handschriften ab, hat das Buch seine Aura des Besonderen und Kostbaren verloren.
Das hat auch Konsequenzen für den Bibliotheksbau, erklärt Karin Wilhelm, Professorin für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt an der TU Braunschweig. Denn die klassische Saalbibliothek, wie sie Jahrhunderte lang der Architekturstandard war, war dem Gedanken der Präsentation, der Ausstellung der Kostbarkeit Buch verpflichtet. "Heute kommt die Bibliothek ohne die Präsentation des Buchkörpers aus, weil das Wissen immer mehr in die virtuellen Netze wandert."
Die Rückkehr des Buches in der Architektur
Dennoch rufen auch zeitgenössische Architekturen den verschwindenden Buchkörper in Erinnerung und arbeiten mit Zitaten aus der Geschichte des Bibliotheksbaus. Besonders beliebt, so Karin Wilhelm, ist das Motiv des Bücher- oder Leseturmes:
"Dieses Thema übernehmen z. B. die Architekten Herzog & de Meuron für ihr neues Informations-, Kommunikations- und Medienzentrum in Cottbus. Sie arbeiten mit einem Motiv des Schutzes - dem Turm. Und dennoch wird dieses Motiv des Schutzes dadurch konterkariert, dass dieser Turm eine Glashülle ist. Das Verschwinden des Buches wird in einem Symbol der Durchsichtigkeit, der Abwesenheit thematisiert."
Entleerte Räume, neue (Un-) Übersichtlichkeit
Für Außen- und Innenarchitektur von Bibliotheken hat das Verschwinden des Buchkörpers Folgen. Neuere Bibliotheken präsentieren sich mit weitgehend entleerten Räumen. Das Arbeiten inmitten von Bücherregalen, die bis zur Decke ragen, wird Vergangenheit.
Diese Entwicklung habe allerdings nicht erst mit den Neuen Medien eingesetzt, erklärt Karin Wilhelm. Sie habe bereits mit dem Wandel von der Universalbibliothek begonnen, in der sich der Leser noch einen Gesamtüberblick verschaffen konnte, zur Magazinbibliothek. "Der Raum wird dadurch übersichtlicher. Aber das Wissen darum, was eine Bibliothek beinhaltet, wird unübersichtlicher." Neue Ordnungs- und Kontrollmechanismen werden notwendig, um die Übersicht wieder herzustellen.
Zonen des Flanierens und Verweilens
Die Reduktion der Bücher in den Lesesälen biete der Architektur allerdings die Chance, dem Leser mehr Platz einzuräumen, erklärt Wilhelm. Hans Scharoun habe bereits in den 1960er Jahren mit seiner Staatsbibliothek in West-Berlin demonstriert, wie großzügige Innenräume, die mit einem differenzierten System von Rampen und Treppen arbeiten, den Leser lustvoll zum Buch hinführen können.
Bibliotheken, die wie Scharouns Stabi West den Leserinnen und Lesern Möglichkeiten des Flanierens und ruhigen Verweilens bieten, könnten den Verlust der sakralen Aura alter Bibliothekssäle zu kompensieren, meint Wilhelm. Und gerade als Kommunikations- und Rückzugsräume dürften Bibliotheken auch im Zeitalter der Digitalisierung Orte des Wissens bleiben, an denen man sich gerne aufhält.
Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendung "Dimensionen" vom Freitag, 20. Oktober 2006 um 19:05 Uhr zum Thema Bibliothekenarchitektur nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.
Buch-Tipp
Julia Danielczyk, Sylvia Mattl-Wurm, Christian Mertens (Hg.), "Das Gedächtnis der Stadt. 150 Jahre Wienbibliothek", Oldenbourg Wissenschaftsverlag, ISBN 3486580809
Links
TU Braunschweig - Karin Wilhelm
IFK - Zum kulturellen Wandel städtischer Bibliotheken