Wenn Demokratie in ihren Ansätzen steckenbleibt

Sterben für die Wahrheit

Nach dem Tod der Journalistin Anna Politkowskaja scheint sich Putins angebliche "Diktatur des Rechts" ohne gröbere Widerstände durchzusetzen, denn der Mut für öffentliche Entgegnungen schwindet zusehends. Was vorherrscht, ist die nackte Angst.

Appell der inzwischen verstorbenen Anna Politkowskaja

Der Tod der Journalistin Anna Politkowskaja ist ein gefährliches Symptom für eine verhängnisvolle Entwicklung in Russland. Die Gewalt, die in einem Teil des Landes nach wie vor herrscht, auch wenn das offizielle Russland das immer wieder lautstark leugnet, schwappt über.

Ein Jahr vor den Parlamentswahlen und eineinhalb Jahre vor der Neuwahl des Präsidenten gibt es kein Erbarmen mehr mit denen, die sich mit Putins angeblicher "Diktatur des Rechts" nicht abfinden wollen und immer noch versuchen, so etwas Ähnliches wie ein zumindest in Ansätzen demokratisches Russland zu schaffen. Anna Politkowskaja war eine der letzten, die ihre Stimme in diesem Sínn erhoben hat.

Russland nach Anna Politkowskaja

In Nasran, der Hauptstadt der Kaukasus-Republik Inguschetien, die an Tschetschenien grenzt, ist kürzlich eine Gedenkkundgebung für die ermordete Journalistin gewaltsam auseinander getrieben worden. Dabei wurde eine Menschenrechtsaktivistin schwer verletzt. In den knapp zwei Wochen seit dem Tod Politkowskajas sind drei weitere Morde an Personen des öffentlichen Lebens begangen worden - und zwar in Moskau, aber auch in Russlands fernem Osten:

"Die politische Situation im Land spitzt sich zu. Einerseits treten die Mächtigen auf und kritisieren fremdenfeindliche Tendenzen. Auf der anderen Seite sagen hohe Beamte öffentlich, dass die größten Verbrecher Georgier sind. Das Land befindet sich in einem hysterischen Zustand, und das führt zu Gewalt. Heute ermorden sie Anna, morgen jemand anderen." So beschreibt der Menschenrechtsaktivist Lew Ponomarjow von der Moskauer Helsinki-Gruppe die momentane Situation im Land.

Zu viele Feinde

Wer hinter dem Mord an Politkowskaja steckt, ist nach wie vor unklar. Bezeichnend für die politische Lage in Russland insgesamt ist aber die Tatsache, dass alle, vor allem auch Annas Verbündete und Freunde, der Meinung sind, es gebe fast zu viele mögliche Hintermänner.

Der demokratische Duma-Abgeordnete Wladimir Ryschkow - der letzte seiner Art übrigens - zählt die möglichen Auftraggeber von Politkowskaja Mördern auf: "Sie wurde von vielen gehasst: von den russischen Einheiten in Tschetschenien, deren Verbrechen sie aufdeckte und ein Buch darüber schrieb, das in viele europäische Sprachen übersetzt wurde. Sie deckte die Lügen bei der Untersuchung der Vorgänge in Beslan auf und ebenso das Verbrechen der Machthaber bei der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater. Ihre Recherchen in Sachen Korruption reichte bis in die höchsten politischen Kreise. Sie hatte sehr, sehr viele Feinde."

Begräbnis des russischen Journalismus

Anna Politkowskaja war sich der Gefahr, der sie sich aussetzte, immer bewusst, machte aber denoch weiter. Sie konnte sich damit nicht abfinden, was seit dem Machtantritt von Wladimir Putin immer deutlicher wurde: dass sich Russland nämlich nicht auf dem Weg hin zu einer gewissen Demokratisierung befindet, sondern im Gegenteil weg davon. Ihre lauthals vorgebrachte Empörung bot ihr - so schien es zumindest lange Zeit - eine Art Schutz. Der Vorsitzende des Fonds zur Verteidigung der Glasnost, Alexej Simonow, drückt das so aus: "Es gab zu viele Gründe dafür, dass ihr so etwas geschehen konnte, als dass man es tatsächlich für möglich gehalten hätte."

Nach Meinung Simonows tötete die Ermordung Politkowskaja auch den russischen Journalismus. Denn keiner, der heute im Land den Mund aufmacht und auf die Missstände hinweist, könne sich seines Lebens mehr sicher sein. Simonow gibt auch den mehrheitlich regierungstreuen russischen Journalisten eine Teilschuld am Tod von Politkowskaja. Sie alle hätten Annas Recherchen jahrelang ignoriert, ihr keine Möglichkeiten gegeben, aufzutreten und über das, was sie gesehen und gehört hatte, öffentlich zu sprechen: "Die kurze Zeitspanne des wirklich freien Journalismus - vom Beginn der von Gorbatschow ausgerufenen Glasnost Mitte der 1980er Jahre des vorigen Jahrhunderts bis zum Beginn des ersten Tschetschenien-Krieges Mitte der 1990er Jahre - hat nicht ausgereicht, um den russischen Journalismus tatsächlich tiefgreifend zu reformieren."

Die Angst geht um

Jelena Tregubova - eine jener jungen russischen Journalistinnen, die ihre Berufskarriere zeitgleich mit Gorbatschows Glasnost und Perestrojka begannen - gehörte unter Jelzin noch zum auserwählten Kreis der Journalistinnen. Mit der Machtergreifung Putins verschwand sie jedoch von der Bildfläche. Ein späteres Buch "Die Mutanten des Kreml" über ihre Erlebnisse als Kreml-Reporterin zeigt ein niederschmetterndes Bild des späteren Präsidenten Putin. Das allein genügte schon, um ihr als Warnung eine Bombe vor ihre Wohnungstüre legen zu lassen. Tregubova war nach dem Tod ihrer Kollegin schockiert: "Wenn sie es wagen, jemand so Bekannten anzugreifen, jemanden, der so offen in Opposition zu Putin stand, dann ist das ein Signal an alle."

Nach den Worten von Tregubova seien alle moralischen Grenzen aufgehoben; jetzt beginne die Abrechnung: mit den Nichtregierungsorganisationen, die nicht tun, was der Kreml will, mit Geschäftsleuten, die eventuell politische Ambitionen entwickeln könnten und eben auch mit den paar kritischen Journalisten, die sich noch irgendwie halten können.

Aussichtslose Situation?

Neben einigen wenigen halbwegs unabhängigen Moskauer Zeitungen und Zeitschriften mit niedriger Auflage und einem einzigen Moskauer Radiosender gibt es derzeit keine wirklich kritischen Medien mehr in Russland. Auch Alexej Simonow meint, der russische Journalismus sei in Schwierigkeiten. Auch, weil vielen Journalisten der Wunsch und die Fähigkeit, Widerstand zu leisten, abhanden gekommen sei: "Erst kürzlich habe ich vom Chefredakteur einer lokalen Zeitung gehört, der sich aufgehängt hat. Man wollte ihn absetzen, weil er nicht länger mit der Lüge leben wollte".

Es scheint eine traurige Tatsache zu sein, dass die wenigen schüchternen Versuche, in Russland so etwas wie eine Zivilgesellschaft aufzubauen und irgendwie doch Schritte in Richtung Demokratie zu machen, zurzeit nicht die geringste Chance auf Erfolg haben. Noch dazu herrscht in Russland bereits Wahlkampf - und das, obwohl das Parlament erst in einem Jahr und der Präsident sogar erst in eineinhalb Jahren gewählt werden. Bleibt nur die Hoffnung, dass sich trotz allem Menschen finden, die den Mut und die Kraft aufbringen, dort weiterzumachen, wo Anna Politkowskaja mit Gewalt zum Schweigen gebracht worden ist.

Mehr zu Anna Politowskaja in oe1.ORF.at:
Interview von Rubina Möhring
Interview von Wolfram Pergler

Hör-Tipp
Europa-Journal, Freitag, 20. Oktober 2006, 18:20 Uhr

Buch-Tipp
Elena Tregubova, "Die Mutanten des Kreml. Mein Leben in Putins Reich", Tropen Verlag, ISBN 3932170911

Mehr dazu in oe1.ORF.at

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