St. Pölten in Niederösterreich

Österreichs am meisten unterschätzte Stadt

Noch immer gilt die niederösterreichische Landeshauptstadt als Inbegriff des öden, von gesichtslosen Nachkriegsbauten verunstalteten Provinzkaffs. Zu Unrecht. In den letzten Jahren hat sich die Stadt tüchtig herausgeputzt.

Ich gebe es zu: Ich habe Vorurteile. St. Pölten ist für mich - wie für die meisten - Inbegriff der öden, von gesichtslosen Nachkriegsbauten verunstalteten Provinzstadt. Ich meine, was verbindet der Durchschnittsösterreicher schon mit St. Pölten? Die Glanzstoffwerke, den vorwiegend vom Durchfahren her bekannten Bahnhof, einen korpulenten Ex-Bischof und einen abgehausten Bundesligaverein, bei dem der große Antonin Panenka einst seine Karriere beendet hat. Nichts als Klischees, klar. Zeit, sie einem Reality-Check zu unterziehen.

Barockes Schatzkästchen

Ich parke in der Nähe des Bahnhofs, spaziere in Richtung Innenstadt. Die erste Überraschung: schaut ziemlich proper aus, das alles. Ein Blick in den Reiseführer belehrt mich: St. Pölten gilt unter Architekturkennern als "barockes Schatzkästchen", die Bischofsresidenz an der Traisen verfüge über eine Dichte an hochkarätigen Baudenkmälern, die ihresgleichen suche in Städten vergleichbarer Größe.

Stimmt schon, ein Hauch von Salzburg weht durch die Altstadt, ohne Salzburger Lodenmief und ohne das Gewurl Sightseeing-wütiger Touristen allerdings. Sehr angenehm. Es ist früher Nachmittag. Hübsche Geschäfte überall, Straßencafés, gepflegte Barockfassaden. In kleinen Grüppchen ziehen Schüler und Studenten der örtlichen Fachhochschule durch die Stadt.

Gut informierter Bürgermeister

Ich biege von der Kremsergasse nach rechts in die Marktgasse ein - und stehe auf einem der schönsten Rathausplätze, die ich je gesehen habe: ein im 13. Jahrhundert angelegtes Geviert mit prächtigen Bürgerhäusern, einer üppig ornamentierten Pestsäule und einem Rathaus mit eindrucksvollem Renaissance-Turm. Just in diesem Rathaus habe ich einen Termin.

Bürgermeister Matthias Stadler erwartet mich. Der leutselige Sozialdemokrat bittet mich in sein Barockarbeitszimmer. Gerade einmal 40 ist der studierte Historiker und Germanist, er weiß eine Menge über die Geschichte seines Gemeinwesens zu erzählen, über das Stadtrecht von 1159, das St. Pölten als älteste Stadt Österreichs ausweist, über die örtlichen Barocktraditionen, auch über die Herkunft des Namens "St. Pölten" kann Stadler mich aufklären.

Es soll ja Leute geben, die in scherzhafter Verkennung etymologischer Prinzipien behaupten, die niederösterreichische Landeshauptstadt sei nach dem "heiligen Pölten" benannt. Das ist Unsinn. Schließlich verdankt auch "St. Gilgen" seinen Namen nicht dem heiligen Gilgen. Der Name St. Pölten - das erfahre ich vom Herrn Bürgermeister - geht auf den "heiligen Hippolytos" zurück. Im Lauf der Jahrhunderte wandelte sich die Aussprache des Namens von "Sankt Hippolytos" in "Sankt Hippolyt", dann weiter in "Sankt Polyt" und schließlich in "St. Pölten". Wieder was gelernt.

Zeitgenössische Architektur vom Feinsten

Natürlich statte ich auch dem modernsten Teil St. Pöltens einen Besuch ab: dem "Regierungsviertel" mit angeschlossenem "Kulturbezirk". Der neue Stadtteil wurde in den 1990er Jahren nach Konzepten Ernst Hoffmanns aus dem Boden gestampft. Hier gibt es zeitgenössische Architektur vom Feinsten zu sehen: das spektakuläre Festspielhaus von Klaus Kada, das Landesmuseum von Hans Hollein, das so genannte "Tor zum Landhaus" von Boris Podrecca.

Allerdings muss man sagen: Das Regierungsviertel wirkt seltsam unbelebt, wenn man es wochentags durchschreitet. Keine Menschenseele zeigt sich auf dem futuristischen Boulevard, der das Regierungsviertel der Länge nach durchschneidet. Dabei arbeiten Tausende von Landesbeamten in dem modernistischen Gebäudekomplex. Man fühlt sich ein bisschen wie in einem der Gemälde de Chiricos, die den Betrachter mit menschenleeren Stadt-Szenerien verstören. Dabei gäbe es im vorzüglich bestückten "Landesmuseum" spannende Kunst zu sehen: Werke von Kokoschka, Schiele, Waldmüller, Nitsch, und der von Ernst Hoffmann entworfene "Klangturm" - Wahrzeichen des Regierungsviertels - lockt mit faszinierenden Klanginstallationen und einem phantastischen Blick über die Stadt.

Spannendes Theaterleben

St. Pöltens Innenstadt ist deutlich belebter. Die Theatermacherin Isabella Suppanz scheint das zu schätzen. Von ihrer Wohnung im Zentrum aus hat die gebürtige Steirerin einen erstklassigen Blick hinüber zum Dom. Seit gut einem Jahr amtiert die einstige Josefstadt-Regisseurin als Direktorin des niederösterreichischen Landestheaters. Am Anfang gab es kritische Stimmen. Die schafft das nie, spannendes Theater nach St. Pölten zu bringen, meinten viele. Ein Irrtum.

Isabella Suppanz hat ein erfolgreiches Jahr hinter sich: Mit einer Auslastung von 88 Prozent hat sie das selbstgesteckte Ziel 2005/2006 um einiges übertroffen. Ein umjubelter "Tartuffe" mit Erwin Steinhauer in der Titelrolle hat das St. Pöltner Publikum ebenso begeistert wie etwa ein Gastspiel des "Berliner Ensembles", das Lessings Stück "Die Juden" in der Inszenierung George Taboris herausgebracht hat.

Widerlegte Vorurteile

St. Pölten sei die vielleicht unterschätzteste Stadt Österreichs, sagt Isabella Suppanz. Die Menschen hier seien theaterbegeisterter als sie gedacht habe, die Altstadt wäre zauberhaft, das kulturelle Angebot reichhaltig. Die Stadt habe jedenfalls sämtliche Vorurteile widerlegt, die sie bei ihrer Ankunft gehabt habe.

Meine auch. Ich habe St. Pölten Unrecht getan, denke ich, als ich die Stadt in Richtung Westautobahn verlasse. Ich weiß auch, wann ich wiederkomme: Im Februar gastiert Theatergott Peter Brook in Frau Suppanz' Theater: mit Dostojewskis "Groß-Inquisitor". Warum kommt Peter Brook eigentlich nicht öfter nach Wien, denke ich. Andererseits: Ist ja nicht weit nach St. Pölten.

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Ambiente, Sonntag, 22. Oktober 2006, 10:06 Uhr

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