Die Welt in 64 Feldern
Schach gestern und heute
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts saßen mit Ausnahme des Amerikaners Bobby Fischer nur russische Spieler auf dem WM-Schachthron. Diese erfolgreiche Serie wurde allerdings vor etwa zehn Jahren auch von einem Schachcomputer unterbrochen.
8. April 2017, 21:58
Auf den ersten Blick ist es ein einfaches Brettspiel: 32 Figuren im strategischen Stellungskrieg auf 64 Feldern. Wenn man sich aber nur annäherungsweise mit dem Schachspiel beschäftigt, das schon vor 2.500 Jahren vermutlich in Indien entwickelt worden ist, entdeckt man, wie grenzenlos variantenreich es sein kann. Es zu beherrschen, war und ist - damals wie heute - nahezu unmöglich.
Ein kurzer Blick auf die jüngere Schach-Geschichte zeigt, dass bei Schach-Weltmeisterschaften ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Ausnahme des Amerikaners Bobby Fischer und eines Schachcomputers namens "Deep Blue" nur der Ostblock mit seinen russischen Schachgroßmeistern eine dominante Rolle gespielt hat. Kein Wunder also, dass Elista in der autonomen Republik Kalmückien zur Schach-Hauptstadt der Welt avancierte.
Russlands Schachhauptstadt
"Elista liegt inmitten einer kargen Steppenlandschaft und ist die vielleicht merkwürdigste Stadt Russlands", liest man in der Internet-Zeitung "Russland-Aktuell". Mit Ausnahme von Schachfanatikern ist sie jedenfalls nur wenigen bekannt. Ins "Zentrum der Welt" rückte sie, als hier 1998 die Schacholympiade stattgefunden hatte.
Die Frage, warum gerade in Elista, erklärt sich von sich selbst, wenn man weiß, dass der Präsident dieser Republik nicht nur Millionär, sondern vor allem Schachspieler ist. Der Mann mit dem klingenden Namen Kirsan Nikolajewitsch Iljumschinow war damals und ist auch heute noch Präsident des Weltschachbundes FIDE. Angeblich mit eigenem Geld ließ er für die damalige Schacholympiade ein Olympisches Dorf unter dem Namen "Schach-Stadt" errichten.
Aus dieser Perspektive gesehen, ist es kein Wunder, dass sich in Elista immer wieder Schachereignisse abspielen, so auch heuer wieder beim bislang jüngsten Schach-WM-Kampf im Oktober zwischen dem Bulgaren Wesselin Topalow und dem Russen Wladimir Kramnik.
Warum ist der Ostblock so dominant?
Warum Schach für die Menschen in ehemaligen "sozialistischen Ländern so eine wichtige Rolle im Leben gespielt hat, ist mir bis heute unklar. Aber das Schachspiel war ungeheuer populär. In meiner Familie in Kroatien - damals noch ein Teil des sozialistischen Jugoslawiens - haben alle leidenschaftlich Schach gespielt: sowohl mein Vater, als auch meine Mutter, die übrigens besser als mein Vater und mein Onkel spielte. Letzterer hat mir immer Schachbücher geschenkt. Auch Schachbretter waren damals überall vorhanden. Wohin man sich auch begab - ob in Kneipen, Kaffeehäuser oder in Stadtparks -, sah man leidenschaftliche Schachspielende, begleitet von einer Menge an Schaulustigen, die kommentierend um die tief konzentrierten Spieler standen. Auch im Freien waren auf allen Ecken und Enden menschengroße Schachfiguren und überdimensionale Bretter aufgestellt.
Die Begeisterung für dieses Spiel war bei uns sehr groß. Wir kannten alle Namen der größten Champions wie etwa Steinitz, Lasker, Capablanca, Alekhine und selbstverständlich auch jene der russischen Schachgroßmeister Botvinnik, Smyslov oder Tal, die die Schachszene in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrschten. Das sozialistische Lager freute sich zu jener Zeit immer sehr, dass die besten Spieler hinter dem Eisernen Vorhang zu finden waren. Diese Erfolge sollten den Bürgern zeigen, dass wir "Idealisten" im "geistigen Sinn" die Überhand über die materielle Welt der westlichen Hemisphäre haben.
Ausnahmen bestätigten die Regel
Als der James Bond-Film "Liebesgrüße aus Moskau" 1963 in die Kinos kam, sahen wir allerdings erstmals, dass auch Spieler aus dem Westen einen russischen Schachgroßmeister wie Kronstein trotz seiner Schachgenialität besiegen konnten. Als dann neun Jahre später der Amerikaner Robert James "Bobby" Fischer auftauchte und von 1972 bis 1975 Weltmeister war, kam die Gewissheit, dass es auch außerhalb von Russland geniale Schachspieler gibt. Fischer wurde übrigens damals nicht nur einmal als Gefahr für den Sozialismus dargestellt. Dennoch haben wir seine drei Jahre als Champion genossen. Denn an seinem Beispiel konnte man sehen, dass der Westen nicht nur an materiellen Dingen festhielt.
Nach Bobby Fischer haben dann wieder die russischen Schachgrößen die Oberhand gewonnen. Auch nach dem Zerfall des Kommunismus blieb die Schachkrone in den Händen oder - besser gesagt - in den Köpfen der russischen Großmeister, bis - ja bis ein von IBM entwickelter Schachcomputer namens "Deep Blue" der Dominanz des menschlichen Gehirns ein Ende setzte, als er am 10. Februar 1996 Garri Kasparow besiegte. Seither liegt unausweichlich ein Schatten der menschlichen mentalen Grenzen auf diesem Spiel, denn erstmals hatte eine Maschine die Seele eines Menschen besiegt.
Das neue Millennium
In Elista hat der Sieg einer Maschine über den Menschen nicht viel bewirkt. Dort spielt heute nach wie vor Mensch gegen Mensch, als ob die Überlegenheit von "Deep Blue" nie stattgefunden hätte.
Zu Beginn des neuen Millenniums wurde die Vorherrschaft der russischen Schach-Großmeister erstmals wieder durchbrochen: diesmal aber nicht von einem Amerikaner, sondern von dem Bulgaren Wesselin Topalow, der im Oktober 2005 ein Rundenturnier in San Luis in Argentinien gewann, das als WM-Turnier zählte. Als zwischendurch der Russe Wladimir Kramnik den Schachthron wieder zurückeroberte, kam es heuer im Oktober dieses Jahres zwischen Topalow und Kramnik zum Kampf der Giganten, und zwar - wie könnte es anders sein - wieder in Elista.
Der Toiletten-Skandal
Der Kampf dieser beiden Champions wurde allerdings von einem Skandal überschattet. Topalows Team erhob während der Partien eine Klage gegen Kramnik wegen seiner ständigen Toilettenbesuche. Dieser Raum war die einzige Stelle ohne konstante Videoüberwachung. Ein von der FIDE eingesetztes Komitee nahm die Beschwerde des Teams wahr. Von da an benutzten beide Spieler eine gemeinsame Toilette; das WC von Kramnik wurde geschlossen. Dieser Umstand rettete Topalow dennoch nicht. Er verlor den Titel an Kramnik, und was der Russe auf der Toilette machte, ist bis dato ungeklärt.
Wesselin Topalow will sich dennoch nicht geschlagen geben. Schon gleich nach der Niederlage bestand er auf eine Revanche. Laut FIDE-Bestimmungen hat er auch das Recht dazu, wenn dafür ein Preisgeld von etwa 1,5 Millionen Euro auf den Tisch gelegt wird. Nach Angaben von Topalows Managern soll dieser Revanche-Kampf im März 2007 in Sofia über die Bühne gehen. Wer die stolze Summe zur Verfügung stellen wird, ist allerdings derzeit noch nicht bekannt. Eines kann man jedoch jetzt schon sicher annehmen: Die Toiletten werden bei dieser Auseinandersetzung überaus stark überwacht sein.
Links
Wiener Zeitung - Österreichischer Schachserver
Russland-Aktuell - Elista
Wikipedia - Schach
Österreichischer Schachbund
Chess Corner
Chessbase News
FIDE