Leben in Putins Reich
Die Mutanten des Kreml
Die Moskauer Journalistin Elena Tregubova hat ein Buch gegen Putin geschrieben und für dieses Buch in Russland auch einen Verlag gefunden, was heutzutage im Reich des "lupenreinen Demokraten" - um Gerhard Schröder zu zitieren - fast unmöglich ist.
8. April 2017, 21:58
Der farblose und verschlossene Präsident Russlands, Wladimir Putin, hat die Presse- und Meinungsfreiheit so gut wie abgeschafft und darüber hinaus viel dazu getan, das kurze Aufglimmen einer Zivilgesellschaft ebenso abzudämpfen wie die freie Marktwirtschaft.
Unbequeme Journalisten werden kaltblütig ermordet, Unternehmer enteignet oder ins Gefängnis gesteckt. Die Wirtschaft und die öffentliche Meinung unterliegen der Kontrolle des Kreml; natürlich auch die sibirischen Öl- und Gasquellen, was dazu führt, dass der Rest Europas dem ehemaligen KGB-Offizier Putin schöne Augen macht.
Angesichts der Tatsache, dass in der Jelzin-Zeit der Aufbau einer freien Gesellschaft in meinem Land nicht zuletzt von der moralischen Unterstützung der progressivsten westlichen Politiker und Organisationen abhing, bedeutet die derzeitige Vogel-Strauß-Politik des Westens gegenüber Putin mit Sicherheit eines: dass man sich von der Demokratie in Russland noch für mindestens ein bis zwei Jahrzehnte getrost verabschieden kann.
Alle Medien vom Kreml kontrolliert
Elena Tregubova hat einen mutigen Verleger gefunden, der ihr Buch in Russland veröffentlicht hat. Es wurde ein Bestseller, erfolgreicher als "Harry Potter", aber das hat die Autorin auch bitter nötig, denn sie hat nicht nur ihre Arbeit als Redakteurin der Tageszeitung "Kommersant" verloren, sie wird in ganz Russland keine Beschäftigung mehr finden, da es kein Medium gibt, das nicht vom Kreml kontrolliert wird. Sie wird von anonymen Anrufern bedroht, ihr Telefon wird abgehört, sie wird auf der Straße verfolgt und einmal ist vor ihrer Wohnungstür eine Bombe explodiert.
Warum das alles? Nicht weil sie Putins Kampf gegen den Terrorismus als Propaganda und staatlich legitimierten Völkermord an den Tschetschenen entlarvt hat wie die kürzlich ermordete Journalistin Anna Politkowskaja. So sehr muss man dem Präsidenten gar nicht einheizen, um seinen Hass auf sich zu ziehen. Es reicht schon, dass er seinerzeit, im Jahr 1998, als er noch Chef des Geheimdienstes FSB war, der Jungjournalistin Elena Tregubova Avancen machte. Der kleine, schüchtern wirkende Mann lud die quirlige Moskauer Schönheit also zum Sushi-Essen ein, wird lang und breit erzählt. Schwer zu sagen, warum er das tat und warum sie es erzählt.
Seltsame Beziehungsgeschichte
Genau das sind die Momente, die Tregubovas Buch problematisch machen. Sie spitzt den Konflikt zwischen Putin und der Presse auf eine seltsame Beziehungsgeschichte zwischen einem lächerlichen Mann in einer für ihn zu großen Rolle und einer ambitionierten jungen Frau zu, die ein wenig zu oft darüber schreibt, wie sehr es sie reizt, den kleinen Mann im Kreml zur Weißglut zu bringen.
Putins größtes psychologisches Problem ist, dass er selbst genau weiß, dass er rein zufällig Präsident geworden ist. Er hat einfach nicht das Format eines Präsidenten. Weder besitzt er eine historische Idee noch ein Bewusstsein seiner eigenen Mission, wie Jelzin es hatte. Putin ist aus Versehen auf dem falschen Stuhl gelandet, und jetzt versucht er mit aller Kraft, sich an diesem Stuhl festzuklammern.
Beklemmend und objektiv
"Die Mutanten des Kreml" mag den Anschein eines Hasspamphlets erwecken, aber streckenweise ist das Buch wirklich beklemmend und offensichtlich objektiv. Etwa wenn sie über ihre Erfahrungen mit Boris Jelzin schreibt, den sie als junge Journalistin ein paar Mal auf Reisen begleitet. Oder wenn sie schildert, wie raffiniert und brutal zugleich der Bürokrat Putin das postkommunistische Russland zu einem autoritären Staat rückbaut, zu einem Staat der Mitläufer, der "Mutanten des Kreml", wie sie schreibt, derjenigen also, die für die Nähe zur Macht alles zu opfern bereit sind.
Mit Putin, meint Elena Tregubova, sei Russland auf dem Weg dorthin, wo es schon einmal unter Stalin war. Bis auf ein paar Journalisten interessiere das allerdings niemanden, nicht einmal die russische Öffentlichkeit, die sich durch die gleichgeschalteten Medien den entschlossenen Kriegsherrn und Supermachtführer Putin vorgaukeln lasse.
Putins wahrer Charakter
Mittlerweile hat sich Putins wahrer Charakter auch westlichen Beobachtern offenbart. Seine Gleichgültigkeit beim Untergang des Atom-U-Bootes "Kursk", sein Verhalten bei den Geiselnahmen im Moskauer Dubrowka-Theater, und zuletzt sein viel zu langes Schweigen nach dem Mord an Anna Politkowskaja stützen nur Elena Tregubovas Befund.
Dass ihr phasenweise spannendes Buch damit endet, wie erfolgreich, wichtig und unverzichtbar dieses ist, sagt natürlich auch etwas über den Charakter der Autorin aus. Es gibt in Russland übrigens noch einige Journalisten, die sich dem Putinschen System nicht fügen wollen. Und nicht alle erheben den Anspruch, sich durch Reibung am Gegner zum Star zu stilisieren. Dennoch ist die Lektüre des Buches allen zu empfehlen, die Wladimir Putin nach wie vor für einen lupenreinen Demokraten und seine Freunde wie etwa Roman Abramowitsch für den netten Besitzer eines schicken Londoner Fußballclubs halten.
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Buch-Tipp
Elena Tregubova, "Die Mutanten des Kreml. Mein Leben in Putins Reich", Tropen Verlag, ISBN 3932170911
TV-Tipp
Treffpunkt Kultur, Elena Tregubova im Interview, Montag, 16. Oktober 2006, 22:30 Uhr, ORF 2
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