"Menschen sind mehr wert als ihre Meinungen"

Der Sinn von Politik

Die politische Denkerin Hannah Arendt wurde vor 100 Jahren, am 14. Oktober 1906, in Hannover geboren. Ihr Werk ist heute so populär wie nie zuvor. Die deutsch-jüdische Philosophin wurde wegen der Radikalität ihres politischen Denkens oft angefeindet.

Die politische Theoretikerin Hannah Arendt wurde lange Zeit für ihre Schriften angefeindet, heute ist sie so populär wie nie zuvor. Ihr Leben wird in einer Fülle von neuen Biografien aufgearbeitet und ihre Werke werden nach und nach neu ediert. Soeben ist ihr Briefwechsel mit Walter Benjamin erschienen. Und immer noch gibt es Neues zu entdecken.

"Wenn man im Jubiläumsjahr ein Buch vermisst, dann ist es der Briefwechsel mit Gershom Scholem", sagt der Philosoph Thomas Meyer, "der ist eine Quelle ersten Ranges, um zu beobachten, was Freundschaft sein kann." Die politische Theoretikerin und der Religionshistoriker waren einander aufmerksame Leser und Kritiker. Nur wenn sie sich Briefe schrieben, standen sie in einem intimen Verhältnis. Sie verlangten sich immer wieder "Ehrlichkeitsorgien" ab, wie es Arendt in einem ihrer Briefe nannte. Die Korrespondenz, die über fast 25 Jahre ging, ist einer der wichtigsten Briefwechsel deutsch-jüdischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, ist Meyer überzeugt.

"Ich will verstehen"

Hannah Arendt wurde vor 100 Jahren, am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren. Sie studierte beim Philosophen Martin Heidegger, der großen Liebe ihres Lebens, und bei Karl Jaspers. 1933 wurde sie von den Nationalsozialisten vertrieben und emigrierte zuerst nach Paris und später nach Amerika.

Im Wesentlichen ging es Hannah Arendt darum, ihre Zeit in Gedanken zu fassen. "Ich will verstehen", war ihr Lebens- und Arbeitsmotto. Dafür scheute sie auch nicht das mühsame Aktenstudium, wie etwa das der Pentagon-Akten in Zusammenhang mit dem Vietnam-Krieg. "Das ist etwas, was moderne Intellektuelle heute eher verweigern", meint die Politikwissenschafterin Sonja Puntscher-Riekmann mit Blick auf die Schnellschüsse einiger französischer Intellektueller. "Für mich ist sie ein großes Vorbild geblieben. Sie zeigt, dass man sich mit Akribie mit der Realität beschäftigen muss, um etwas aussagen zu können."

Politik macht den Menschen erst aus

Arendts Schlüsse sind bis heute gültig, weil sie Verhaltensmuster beschrieb. Wie zum Beispiel im Aufsatz "Die Lüge in der Politik" aus dem Jahre 1972. So wie damals vor dem Vietnam-Krieg der US-Kongress mit bewussten Lügen getäuscht wurde, wurde die Öffentlichkeit auch nach dem Anschlag auf das World Trade Center manipuliert. Die Wurzel des Anschlags lag nicht im Saddam-Hussein-Regime, wie heute jeder weiß. Für Arendt-Kenner ein Dejà-vu-Erlebnis.

Politik macht den Menschen erst aus, meint Arendt. Er kann sich mit seinesgleichen zusammentun und sich Ziele setzen, etwas Neues beginnen. Wenn es der Staat zulässt. Aus leidvoller Erfahrung mit dem Nationalsozialismus beschäftigte sie sich mit Regimen, in denen Menschen die Fähigkeit politisch zu handeln abgesprochen wurde.

Totale Herrschaft bedeutet eine tief greifende Zerstörung von Politik. Ihr Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" ist mit seinen 1000 Seiten heute ein Standardwerk. "Der Sinn von Politik ist Freiheit", meinte sie und kämpfte deshalb für einen funktionierenden Rechtsstaat, in dem die Bürger- und Freiheitsrechte gesichert sind.

Anfeindungen

Ihre Erkenntnisse werden heute gerne als Slogan eingesetzt. "Denken ohne Geländer", die "Pluralität des Menschen" und nicht zuletzt "Die Banalität des Bösen". Das war der Untertitel ihres Buches "Eichmann in Jerusalem", eines Berichts vom Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, den Verwalter der "Endlösung".

Arendt war als Reporterin für den "The New Yorker" 1961 nach Jerusalem geschickt worden. Sie beschrieb Eichmann in ihren Reportagen als einfältigen Bürokraten, als Hanswurst. Zudem machte sie die Judenräte für das Funktionieren des Massenmordes mitverantwortlich. Es gab einen Sturm der Entrüstung. Für Arendt ein Schock, dass sie als "Nazi" beschimpft wurde. Das bedeutete auch den endgültigen Bruch mit dem Zionisten Gershom Scholem.

Schwierige Freundschaft

Schon Jahre zuvor war die Freundschaft auf die Probe gestellt worden, als sie 1945 in ihrem Artikel "Zionism Reconsidered" das Konzept des Zionismus heftig attackiert hatte. Scholem schrieb ihr daraufhin einen "bitterbösen Brief", wie sie sich beklagte. Ihre Antwort vom 21. April 1946: "Mir sind menschliche Beziehungen meist sehr viel wichtiger als so genannte offene Aussprachen. In diesem Fall haben Sie mir mehr Provokation zugemutet, als recht und billig war. Vielleicht können Sie sich entschließen, es in diesem Falle so zu halten, wie ich; nämlich, dass einem Menschen mehr wert sind als ihre Meinungen, aus dem einfachen Grunde, weil Menschen de facto mehr sind, als was sie denken oder tun".

Die Versöhnung gelang noch einmal, obwohl ihr Scholem mangelnde Liebe zum jüdischen Volk vorgeworfen hatte. In ihrem berühmten Interview mit Günter Gaus antwortete sie später noch einmal auf diese tief gehende Anschuldigung: "Ich kann keine Nation lieben, ich kann keinen Staat lieben, ich kann nur meine Freunde lieben."

Das Zerwürfnis über Eichmann bedeutete aber schließlich das Ende dieser langen Freundschaft. Bis zum Tod Hannah Arendts 1975 kam es zu keiner Versöhnung mehr. Dabei hatten sich zwei ironische Seelen gefunden, wie ihr Brief vom 27. November 1946 zeigt: "Ich bin Ihnen böse, dass Sie unsere Verabredung nach dem Weltkrieg 5.00 Uhr im Café nicht eingehalten haben; aber ich gebe zu, irgendwie steht das Café nicht mehr."

Hör-Tipp
"Der Wirklichkeit widerstehen" - Aus Liebe zur Welt.
Zum 100. Geburtstag von Hannah Arendt
Logos, Samstag, 14. Oktober 2006, 19:05 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendung "Salzburger Nachtstudio" vom Mittwoch, 11. Oktober 2006, 21:01 Uhr und "Logos" vom Samstag, 14. Oktober 2006, 19:05 Uhr nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.