Hören über Vibrationen

Die Verzweiflung habe ich hinter mir

Wie gehen und gingen Interpreten und Komponisten mit körperlichen Behinderungen um? Beethoven war taub, Bach war gegen Ende seines Lebens blind. Die schottische Schlagzeugerin Evelyn Glennie nimmt Musik hauptsächlich über Vibrationen wahr.

Wie Evelyn Glennie neu zu hören lernte

"Viele denken, ein Behinderter muss doch leiden, traurig und verzweifelt sein. Aber das bin ich gar nicht. Die Verzweiflungen habe ich hinter mir, ich bin sehr lebensbejahend", meinte der contergangeschädigte Bassbariton Thomas Quasthoff einmal in einem Interview. Wie gehen Interpreten und Komponisten mit körperlichen Behinderungen um?

Evelyn Glennie ist eine britische Schlagzeugerin und Komponistin, eine der weltweit bekanntesten Interpretinnen zeitgenössischer Musik. Sie gilt als erste Person, die im Bereich der E-Musik erfolgreich eine Karriere als Schlagzeug-Solistin eingeschlagen hat. Glennie wuchs auf dem Bauernhof ihrer Eltern in Aberdeenshire auf und fing mit zwölf Jahren an, Pauke, Trommeln und Xylofon zu spielen.

Perkussionistin trotz Hörbehinderung

Ungefähr 100 Jahre, nachdem Friedrich Smetana taub geworden war, ereilte im Jahr 1976 das zwölfjährige schottische Mädchen Evelyn Glennie ein ähnliches Schicksal: Aufgrund einer Nervenkrankheit verschlechterte sich ihr Gehör so stark, dass sie einige Jahre später nur noch ein Hörvermögen von 20 Prozent hatte.

Töne und Musik nimmt sie seither hauptsächlich über Vibrationen wahr. Sie studierte dennoch Klavier und Schlagzeug und zählt nunmehr seit beinahe zwei Jahrzehnten zu den bekanntesten Perkussionistinnen der Welt.

Durch den Körper hören

In Thomas Riedelsheimers Filmportrait "Touch the Sound" erklärt sie, wie sie mit ihrem Körper zu hören gelernt hat: "Ich begann zu entdecken, dass ich immer weniger mit den Ohren und immer mehr durch den Körper zu hören begann. Und darum schlug mir mein Lehrer, den ich mit zwölf Jahren kennen lernte, vor, dass ich meine Hände an die Wand legen sollte. Er spielte dann auf zwei sehr alten Pauken, und stimmte sie in einem großen Intervall."

Beide hätten die Hände an die Wand gelegt und ihr Lehrer habe auf eine Pauke geschlagen. "Dann fragte er: 'Wo fühlst du diese Trommel?' Und ich fühlte sie von diesem Teil meiner Handfläche bis einige Zentimeter weiter abwärts. Und dann spielte er die andere. 'Wo fühlst du das?' Ich sagte: 'Ungefähr hier, ein wenig tiefer.' Und dann verkleinerte er den Intervallabstand immer mehr und ich konnte den kleinsten Unterschied spüren. Damals begann ich, meinen Körper wirklich als Resonanz-Körper einzusetzen."

Eine Form der Berührung

Hören sei eine Form der Berührung, so Glennie: "Es ist so schwer zu beschreiben, denn die Klänge kommen zu dir, es ist, als ob du sie buchstäblich greifen und fühlen könntest."

Konzertreisen führen Evelyn Glennie nach Japan, Europa und häufig in die USA. Sie tritt mit großen Orchestern und wichtigen Ensembles für zeitgenössische Musik auf und gibt zahlreiche Solokonzerte. Daneben hält sie Meisterklassen ab und tritt in Schulen auf. Glennie gab bei Komponisten bis dato über 100 Konzerte, Konzertstücke, Solowerke und Ensemblewerke in Auftrag, mit denen sie ihr Repertoire ständig erweitert.

Für Crossover-Projekte arbeitete sie mit Musikern verschiedenster Stilrichtungen aus aller Welt zusammen, etwa mit brasilianischen Sambamusikern, japanischen Kodo-Trommlern, indonesischen Gamelan-Ensembles und der isländischen Sängerin Björk.

Gebrauchsgegenstände als Instrument

In ihrem Tonstudio nördlich von London experimentiert sie mit ungewöhnlichen Musikinstrumenten und der Eignung von Gebrauchsgegenständen als Perkussionsinstrument. Sie besitzt infolge dieser Experimente bereits über 1.800 Perkussionsinstrumente.

"Stille ist wahrscheinlich einer der lautesten und gewichtigsten Klänge, die du jemals wirst erleben können", meint Glennie. "Bloß wir haben nicht die Sensibilität, um zu hören, was um uns herum ist."

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 9. Oktober 2006, bis Donnerstag, 12. Oktober 2006, 9:45 Uhr

Links
Evelyn Glennie
Thomas Quasthoff
Touch the Sound