Rom im Zweiten Weltkrieg

Bildnis der Mutter als junge Frau

Friedrich Christian Delius machte in seinen ersten Romanen vor allem den so genannten "Deutschen Herbst" zum beherrschenden Thema. Vor knapp zehn Jahren starb seine Mutter, der er nun ein literarisches Denkmal errichtet hat.

Laufen Sie, junge Frau, laufen Sie, wenn Sie wollen laufen, der Kind sich freut, wenn Sie laufen, bewegen gut, anstrengen nicht gut, und der Sauerstoff von römische Luft, etwas mehr Gutes nicht gibt in Italien für Sie und der Kind, und alles ohne Geld, die Stadt Rom sich freut, Ihnen und der Kind seine gute Luft zu schenken ...

Dr. Roberto, der fidele Arzt der hochschwangeren jungen Frau aus Deutschland, animiert zum Spaziergang durch die winterliche Ewige Stadt. Es ist Samstagnachmittag im Jänner 1943 und der Weg führt vom Diakonissenheim in der Via Allesandro Farnese, wo sie wohnt und arbeitet, bis zur Kirche in der Via Sicilia, um einem Konzert beizuwohnen. Eine Stunde im Leben einer einsamen Frau in einer fremden Stadt. Das ungeborene Kind in ihrem Bauch ist der Autor selbst. Der Vater wurde wenige Tage zuvor abkommandiert ins ferne Tanger in Afrika.

... man musste gerade jetzt an den Sieg glauben, auch sie wünschte, sie betete um den Sieg, nicht nur aus nationaler Pflicht, sondern insgeheim aus dem verbotenen egoistischen Grund, dass er schnell und heil heimkäme, ihr Mann, der ihr die römischen Freuden versprochen hatte ...

Jetzt tapfer sein!

Dolce Vita mitten im Krieg: So schön hatte sie sich Rom heimlich ausgemalt. Ihrem Mann wurde die Übernahme einer evangelischen Pfarre versprochen, doch schon bald musste er an die Front und sie, im achten Monat schwanger, allein zurücklassen. Pflichtbewusst registriert sie, dass jetzt vor allem eines zählt: tapfer sein und das Kind austragen, es hüten und ernähren, die - wie sie in ihrer BDM-Gruppe gelernt hat - "schönste Aufgabe einer Frau" erfüllen. Und das muss dem 21-jährigen Mecklenburger Landmädel nun einmal auch in dieser für sie undurchschaubaren, unheimlichen Metropole gelingen.

... mitten über dem Tiber packte sie wieder das verlegene Staunen, dass ausgerechnet sie in dieser Weltstadt leben durfte, in dieser Stadt aller Städte, wie Frau Bruhns sagte, ausgerechnet sie, die nicht einmal Latein gelernt hatte und gerade mal die Namen Romulus und Remus, Cäsar und Augustus kannte und auch von der Kunst nichts verstand und von den Päpsten sowieso nicht ...

Gottvertrauen, Führergehorsam und Mutterinstinkt

Es ist schon erstaunlich wie offen und ehrlich Friedrich Christian Delius seine Mutter in dieser Ausnahmesituation beschreibt. Da wo viele Autoren verklären, anklagen oder sich in Ironie flüchten würden, schildert er einfach das Leben dieser Frau. Er schmückt Gutes nicht weiter aus, verschweigt aber auch nicht, was weh tut: die angeblich so "herrlichen Erinnerungen" an die BDM-Zeit, die Rechtfertigung des Krieges oder das völkische Frauenbild, dem sie sich verpflichtet fühlt.

Schritt für Schritt kommt man einer Frau näher, deren Gedanken von Gottvertrauen, Führergehorsam und Mutterinstinkt geleitet sind - meisterhaft und stilistisch spannend erzählt, denn der gesamte 120-seitige Text besteht aus nur einem einzigen Satz.

... sie durfte sich die Sehnsucht nicht anmerken lassen, das gehörte sich nicht für die Frau eines deutschen Soldaten, die mit aller Geduld in der Heimat zu warten hatte, zuerst auf den endgültigen Sieg und dann auf ihren Mann, aber sie war nicht in der Heimat, sie war in der Fremde und niemand konnte von ihr erwarten, dass sie mit frohem Herzen durch die Fremde lief ...

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 6. Oktober 2006, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 8. Oktober 2006, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Friedrich Christian Delius, "Bildnis der Mutter als junge Frau", Rowohlt Verlag 2006, ISBN 3871345563