Die scope-Konferenz in Wien
Kulturerbe neu denken
Kulturelles Erbe - darunter verstand man lange Zeit nur Monumente wie die Pyramiden von Gizeh oder die Chinesische Mauer. Neue Konzeptionen von Kulturerbe rücken die Menschen und die Geschichten hinter den Objekten in den Vordergrund.
8. April 2017, 21:58
Kulturerbe oder gar Weltkulturerbe, das bedeutet mehr als lediglich alte Bauwerke zu schützen. Spätestens seit der UNESCO-Konvention zum Schutz des immateriellen Erbes im Jahr 2003 rücken auch nicht-fassbare Praktiken wie Erzählungen, Traditionen oder Sprachen verstärkt in den Blick der Kulturerbe-Debatte.
Neue Sicht auf das Kulturerbe
Der in Harvard lehrende Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Homi Bhabha spricht in diesem Zusammenhang von einer notwendigen Korrektur der Sicht auf dieses Erbe, denn auch kulturelle Gegenstände und Bauwerke seien nicht ohne die vielfältigen Geschichten zu verstehen, die mit ihnen verbunden sind. Das erklärte Bhabha beim Auftakt der Konferenz "Sites & Subjects. Narrating Heritage" in Wien.
In der Vergangenheit wurden diese Geschichten oft aus nationaler Perspektive erzählt - nicht zuletzt deshalb, weil die Institutionen, die sich um das materielle Erbe kümmerten, meist nationale Einrichtungen waren. "Das Erbe", so Homi Bhabha, "das war nicht nur die Schönheit eines Gebäudes oder einer Kirche. Das 'Erbe' machte aus solchen Bauten ein Symbol nationaler Authentizität, das im Gegensatz zur angeblichen 'Verwässerung' der eigenen Traditionen durch andere Kulturen, Ethnien oder Religionen stand. Es war also ein Versuch, die 'Reinheit', die Kontinuität und die Identität der Kultur zu bewahren."
Globalisierung und Kulturkonzepte
Unsere Vorstellungen von Kultur und Identität als etwas Einheitliches und Geschlossenes wurden durch Globalisierung und Migration ins Wanken gebracht. Das, so Homi Bhabha, bringt auch Bewegung in die Kulturerbe-Diskussion. Denn in einer Welt der Migration von Menschen und Objekten können kulturelle Güter nicht für alle den Wert haben, den eine Gruppe von Menschen vorgibt. Unterschiedliche Kulturen verbinden mit ein und demselben Objekt oft ganz andere Geschichten. Und damit werden diese Geschichten genau so wichtig wie die Objekte selbst.
Ein anschauliches Beispiel ist die Altstadt von Jerusalem, die 1981 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Jerusalems Altstadt besteht zwar aus einem Ensemble von Bauten und Monumenten - doch Juden, Christen und Muslime lesen diese Bauten ganz unterschiedlich und verbinden verschiedene Geschichten mit ihnen.
Kulturerbe Produkt gesellschaftlicher Ausverhandlungsprozesse
Neue Annäherungen an Kulturerbe müssen daher, so Homi Bhabha, stärker die Frage nach der Provenienz stellen - die Frage nach dem Weg, den ein Gegenstand genommen hat und nach den Werten und den Bedeutungen, die er im Lauf der Zeit angenommen hat. "Was wir Erbe nennen, ist nicht selten Teil eines Konflikts von Interpretationen und eines Konflikts von Traditionen."
Die Schattenseiten des Erbes
Den Gedanken zuzulassen, dass kulturelles Erbe immer konflikthaft ist, bedeutet für Homi Bhabha auch, die dunklen Flecken der eigenen Geschichte zu akzeptieren. "Wenn man sich den Licht- und Schattenseiten der eigenen Kultur und Geschichte stellt, dann ist man auch anderen Kulturen gegenüber offener", ist Homi Bhabha überzeugt. "Denn man sieht, dass auch die eigene Kultur kein großes Ganzes ist und schon in sich aus vielen verschiedenen Bedeutungen und Werten besteht."
Mehr zur Kulturerbekonferenz in oe1.ORF.at
Interview mit dem Kulturphilosophen Bhabha
Kulturerbekonferenz in Wien
Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendung Dimensionen von Freitag, 29. September 2006, 19:05 Uhr nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen
Buch-Tipps
Homi Bhabha (Hg.), "Nation and Narration", Routledge, ISBN 0415014832
Homi Bhabha, "Die Verortung der Kultur", Stauffenburgg, ISBN 3860570331
Moritz Csáky, "Kulturerbe als soziokulturelle Praxis", Studienverlag, ISBN 3706541254
Links
UNESCO - Das immaterielle Kulturerbe
Humanities Center at Harvard
scope