Der Psychiater als Autor
Die Süße des Lebens
Grenz- und Genre-überschreitend präsentiert sich das neue Buch von Paulus Hochgatterer. "Die Süße des Lebens" ist ein Roman, der trotz seiner gekonnt gesetzten Spannungselemente, entscheidend von simpel gestrickten Krimi-Mustern abweicht.
8. April 2017, 21:58
Zwei berufliche Existenzen in einem Alltag können so anstrengend wie fruchtbar sein. Auch wenn es berühmte Exempel von Schriftstellern gibt, die Ärzte waren, wie Benn oder Celine, die Regel ist es nicht. Während die meisten Autoren vor allem auf ihren eigenen Erfahrungshintergrund als Schriftsteller reduziert sind, können jene, die auch als Ärzte, Anwälte, Historiker, Universitätsprofessoren, Naturwissenschaftler oder Journalisten arbeiten, auf Detailkenntnisse in einer anderen Lebensrealität zurückgreifen. Einer Lebensrealität, die es dann literarisch und fiktiv zu verwandeln gilt.
Grenz- und Genre-überschreitend präsentiert sich auch das neue Buch von Paulus Hochgatterer. Ob er damit, wie angekündigt, einen Thriller oder Krimi geschrieben hat, sei dahingestellt. Auf jeden Fall ist "Die Süße des Lebens" ein Roman, der trotz seiner gekonnt gesetzten Spannungselemente, entscheidend von simpel gestrickten Krimi-Mustern abweicht. Das Erkenntnisinteresse gilt dezidiert nicht nur der Aufklärung des Falls und seinen psychologischen Hintergründen, sondern der Verstörung, die so genannte Durchschnittsmenschen oft unverschuldet aus der Ruhe und Balance ihres Lebens wirft.
Mädchen unter Schock
Am Anfang steht ein Mord, der die idyllische Situation zwischen einem nett erscheinenden Großvater und seiner Enkelin zerstört. Gerade hat sie noch einen bitteren Kakao getrunken und die Milchhaut gekostet, gerade haben sie und der Opa noch "Mensch ärgere Dich nicht" gespielt. Nun liegt der alte Mann tot im Schnee, sein Gesicht ist zermalmt, alles sieht nach einer Hinrichtung aus.
Das Mädchen spricht nach diesem Schock kein Wort mehr. Somit wird die Lösung dieses Falls nicht nur zur Aufgabe für den Kriminalkommissar Ludwig Kovacs, der den Mörder finden, sondern auch für den Psychiater, Raffael Horn, der das traumatisierte Mädchen behandeln soll. Damit konnte der Autor Hochgatterer aus seinen Erfahrungen als Kinderpsychiater schöpfen und sein bislang persönlichstes Buch schreiben.
Einer muss es gewesen sein
Die in zahlreichen Perspektiven durchkomponierte Handlung ist in der fiktiven Kleinstadt Furth im westlichen Österreich lokalisiert. Fiktiv sind auch die handelnden Personen, selbst wenn manche Patienten dazu neigen, sich mit gewissen Persönlichkeitsanteilen der literarischen Figuren zu identifizieren. Eine Mutter, die in ihrem neugeborenen Kind den Teufel erblickt. Ein verhinderter Selbstmörder, der nicht von seinem Kriegstrauma loskommt und in der Bienenzucht sein Heil sucht. Ein joggender Priester, der sich eine Familie imaginiert und sich nicht einmal beim Begräbnis des Ermordeten von seinem I-Pod trennen kann. Ein psychopathischer Familienvater, der seine Tochter krankenhausreif schlägt. Zwei gewalttätige Buben, die Tiere töten und in einer virtuellen Welt von fragwürdigen Rächern leben. Schwer ver- und gestörte Menschen von nebenan, die im psychiatrischen Blick des Autors den ganz normalen Wahnsinn im Kleinstadt-Biotop repräsentieren.
Alle diese Menschen sind Kommissar und Psychiater mehr oder weniger bekannt. Manche dieser Menschen sind Sympathieträger, anderen möchte man nicht einmal als Nervenarzt begegnen. Einige kommen als Mörder in Frage. Keinem von ihnen traut man den Mord wirklich zu. Warum sollte ein noch so gewalttätiger Vater einen ihm unbekannten Opa töten? Warum sollten aggressive Jugendliche einen unauffälligen alten Mann als Zielscheibe suchen? Aber einer muss es schließlich gewesen sein und dieser Jemand muss ein Motiv haben. Kommissare sind auf auffällige Menschen programmiert, die bereits eine Straftat begangen haben. Aber hätte sich der Mord im Vorfeld durch einen geistesgegenwärtigen Psychiater, der seine Patienten und ihre Traumata kennt, verhindern lassen? Hat Raffael Horn, der selbstkritische und reflektierte Menschenfreund, einen Fehler gemacht?
Falsche Spuren
Paulus Hochgatterer inszeniert seinen Krimi so, dass er mit System und Bedacht falsche Spuren legt. Diese Spuren behält man auch dann im Auge, wenn der Autor nicht auf die geradlinige Lösung des Kriminalfalls fokussiert, sondern die Figuren der Handlung mit ihren Ticks, Leidenschaften, ihrer Trauer, ihrer Verzweiflung und in ihren mehr oder weniger verzwickten Beziehungen darstellt.
Unnötig ist nichts in diesem Buch. Jeder Satz sitzt. Jede Figur wird lebendig. Rätsel dürfen bleiben, auch wenn Mord und Motiv geklärt werden. Was nachhaltig wirkt, ist die Atmosphäre der Angst, die in einer Kleinstadt umgeht und nicht nur mit den Gewalttaten zu tun hat, sondern auch mit der Einsicht in die grundsätzliche Endlichkeit der Existenz, über die auch kein Psychiater hinwegtäuschen kann.
Buch-Tipp
Paulus Hochgatterer, "Die Süße des Lebens", Deuticke Verlag, ISBN 3552060278